Warum wird’s nicht einfach Herr Juncker? Funktionslogik und Verfassungspraxis des EU-Regierungssystems unter dem Vertrag von Lissabon

Von Stefan Thierse

Dieser Beitrag zeigt Konflikte im politischen System der EU bezüglich der Ernennung des neuen EU-Kommissionspräsidenten auf.

Nach der Wahl ist vor der Wahl. Was klingt wie ein Allgemeinplatz, zählt zu den spannendsten und folgenreichsten Weichenstellungen für die Verfassungspraxis nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon. Das aktuelle Tauziehen zwischen dem Europäischen Parlament (EP) und dem Europäischen Rat (ER) um die Personalie des künftigen Präsidenten der EU-Kommission ist vor allem auch ein Ringen um die Deutungshoheit des Vertragstextes. Dort heißt es in Art. 17 Abs. 7 sibyllinisch, dass der ER dem Parlament „nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten“ für das Amt des Kommissionspräsidenten vorschlägt, wobei das Ergebnis der Europawahlen zu „berücksichtigen“ sei.

Die Interpretationen darüber, was genau unter der Berücksichtigung des Wahlergebnisses zu verstehen sei, gehen zwischen beiden Organen naturgemäß auseinander. Das hängt nicht zuletzt mit unterschiedlichen Auffassungen darüber zusammen, was die EU-Kommission ist bzw. sein soll: Eine politisch neutrale Aufsichts- und oberste Verwaltungsbehörde der EU oder eine mit dem Monopol der Gesetzesinitiative ausgestattete Regierungszentrale, die stärkerer parlamentarischer Verantwortlichkeit bedarf. Die divergierenden Meinungen verweisen nicht nur auf den altbekannten Dualismus zwischen Supranationalismus und Intergouvernmentalismus, sondern werfen auch die Frage nach dem institutionellen Entwicklungspfad der EU erneut auf: Wird das EU-Regierungssystem fortan ‚parlamentarischer‘? Oder bleibt es von seiner Funktionslogik stärker an präsidentiellen Systemen orientiert? Fest steht, dass unter dem geltenden Lissabon-Vertrag sowohl der ER als auch das EP über Vetomacht verfügen: Ohne eine absolute Mehrheit im EP kommt kein von den Staats- und Regierungschefs nominierter Kandidat ins Amt.  Dies ist die parlamentarische Lesart der Verträge. Allerdings haben die Premiers, Kanzler und Staatspräsidenten ihr Nominierungsrecht mitnichten eingebüßt. Von sich aus kann das EP keinen Kommissionspräsidenten ins Amt wählen. Das ist der entscheidende Unterschied zu einem parlamentarischen Regierungssystem. Die Einschätzung, der ER könnte in eine analoge Rolle schlüpfen wie der deutsche Bundespräsident, der dem Parlament einen Kandidatenvorschlag unterbreitet, dabei aber faktisch auf denjenigen festgelegt ist, der eine Mehrheit hinter sich vereinigen kann (vgl. Oppelland 2010: 90),  darf man gegenwärtig als durchaus kühn bezeichnen. Der britische Premier David Cameron hat seinen Widerstand gegen jedweden Spitzenkandidaten quasi mit der Zukunft Großbritanniens in der EU verknüpft. Auch Angela Merkel, lange Zeit ebenfalls erklärte Gegnerin eines solchen Automatismus, hat mit ihrer wankelmütigen Haltung gegenüber Jean-Claude Juncker Zweifel daran geweckt, dass der ER bereit ist, mit dem EP die Rollen im Nominierungsverfahren zu tauschen.

Selbst wenn es dem EP gelänge, der „Macht des Faktischen“, d.h. der Festlegung des Rats auf einen vom EP unterstützten Anwärter, Geltung zu verschaffen, wäre das System freilich immer noch kein parlamentarisches im engeren Sinne. Die Abberufbarkeit der Kommission aus politischen Gründen, in alt-institutionalistischer Perspektive das zentrale Merkmal parlamentarischer Systeme, bleibt dem EP weiterhin verwehrt. Erst die Möglichkeit der Regierungsauflösung schafft allerdings das charakteristische Abhängigkeitsverhältnis zwischen Exekutive und Legislative. Auch gilt es zu berücksichtigen, dass die Investitur der Kommission, in Analogie zu einer „Regierungswahl“, keine notwendige Bedingung für ein parlamentarisches System ist. Auch in quasi-präsidentiellen Systemen wie der Schweiz ist diese Einrichtung üblich. Die Anhörungen der einzelnen Kommissare in den Ausschüssen des EP im Vorfeld der Investiturabstimmungen lassen umgekehrt Parallelen zu den Anhörungen der Kabinettsmitglieder im US-Senat zu (vgl. Kreppel 2011: 170).

Die Bestellung der EU-Kommission als Ganzes kommt daher eher einem Bestätigungsrecht als einer förmlichen Wahl gleich (vgl. Decker/Sonnicksen 2011: 173). Denn anders als der Vergleich mit dem Bundespräsidenten suggeriert, verfügt der ER als eigentliche politische Exekutive der EU über eine weitaus größere Macht über das Personaltableau der Kommission: So ist das Recht der Regierungen, ‚ihren‘ Kommissar nach Brüssel zu entsenden, unter dem Vertrag von Lissabon erhalten geblieben. Dessen Nominierung durch den ER und die anschließende  Wahl im EP dürfte auch kaum in eine grundlegende politische Richtungsentscheidung münden, die Gewinner und Verlierer produziert: Als exekutives Kollegialorgan benötigt der ER für eine Entscheidung eine qualifizierte Mehrheit (und faktisch Einstimmigkeit). Dies erfordert eine Kooperation zwischen sozialdemokratischen und christdemokratischen Regierungen (Kaeding 2014: online), die sich am Ende in Kompromissen über Inhalte und Personalien widerspiegeln wird.

Ein breiter Konsens zeichnet sich auch im EP ab. Selbst die Grünen, die noch am ehesten als ein funktionales Äquivalent parlamentarischer Opposition im EP begriffen werden können, haben unter Verweis auf ‚die Verträge‘ ihre Unterstützung für Juncker signalisiert! Im Showdown zwischen den EU-Organen zeigt sich doch wieder der alte „organschaftliche Dualismus“ (Dann 2004: 331), der aus Systemen mit institutioneller Gewaltenteilung geläufig ist. Die Ankündigung der Fraktionschefs der großen Parteigruppierungen, die Reihen zu schließen und eine faktische große Koalition zu bilden, ist jedoch nicht nur der Durchsetzung parlamentarisch-institutioneller Eigeninteressen geschuldet, sondern auch dem Erstarken euroskeptischer Parteien im EP. Inwiefern daraus auch eine kontinuierliche, handlungs- und arbeitsfähige Mehrheit erwächst, bleibt abzuwarten. Auch nach der Wahl des nächsten Kommissionspräsidenten wird gelten: Mehr Parlamentarismus in der EU bedeutet noch keine Entwicklung zu einem parlamentarischen System (vgl. Decker/Sonnicksen 2011: 175).

 

Verwendete Literatur

Dann, Philipp (2004): Parlamente im Exekutivföderalismus. Eine Studie zum Verhältnis von föderaler Ordnung und parlamentarischer Demokratie in der Europäischen Union, Heidelberg.

Decker, Frank / Sonnicksen, Jared (2011): An Alternative Approach to European Union Democratization: Re-Examining the Direct Election of the Commission President, in: Government and Opposition 46 (2), 168-191.

Kaeding, Michael (2014): Quasi-präsidentiell? Ein erbitterter Machtkampf zweier Lager nach der Europawahl entscheidet über die unmittelbare Zukunft Europas. Online unter: www.regierungsforschung.de/data/200514regierungsforschung_de_kaeding_ep2014_quasi_prsidentiell.pdf (04.06.2014)

Kreppel, Amie (2011): Looking ‘Up’, ‘Down’ and ‘Sideways’: Understanding EU Institutions in Context, in: West European Politics 34 (1), 167-179.

Oppelland, Torsten (2010): Institutionelle Neuordnung und Demokratisierung, in: Leiße, Olaf (Hrsg.): Die Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon, Wiesbaden, 79-96.

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