Aktivierte Vorbehalte: Wie Migration zum Schlüsselthema der Bundestagswahl 2025 wurde

Conrad Ziller

Die Debatte um Zuwanderung im Wahljahr 2025

Die Bundestagswahl 2025 hat einmal mehr gezeigt, wie stark das Thema Migration die politische Landschaft in Deutschland prägt. Umfragen kurz vor der Bundestagswahl (z.B. DeutschlandTrend vom Januar 2025) zeigten, dass die Themen Zuwanderung und Flucht von 37 Prozent der Befragten als wichtigstes Problem wahrgenommen wurden – Platz 1 im Vergleich zu anderen Themen wie Wirtschaft, bewaffnete Konflikte, soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz und Bildung. Laut Wahlanalysen gaben 15% der Wähler:innen an, dass Zuwanderung bei ihrer Wahlentscheidung die größte Rolle spielte – unter AfD-Wählenden waren es sogar 38%.

Neu ist Migration für Deutschland nicht: Derzeit leben hier rund 21 Millionen Menschen mit Einwanderungsgeschichte – definiert als Personen, die selbst oder deren Eltern nach 1950 nach Deutschland eingewandert sind. Dies entspricht etwa einem Viertel der Gesamtbevölkerung.

Und trotzdem: Die jüngsten Wahlergebnisse zeigen, dass das Thema Migration immer wieder zum politischen Konfliktfeld wird. So beeinflussten die furchtbaren Anschläge von Magdeburg, Aschaffenburg und München den öffentlichen Diskurs, aber es waren vor allem die politischen Parteien – allen voran die AfD – die das Thema gezielt instrumentalisierten, um sich im Wahlkampf zu positionieren und Wähler:innen zu mobilisieren. Diese Dynamiken werfen grundlegende Fragen auf: Wie stabil sind eigentlich Einstellungen zu Zuwanderung? Woher kommen die regelmäßigen Hochphasen in der öffentlichen Aufmerksamkeit für das Thema? Und welche Rolle spielen rechtspopulistische Parteien bei der Konstruktion von Migration als gesellschaftliches Problem?

Einstellungen zur Migration: Stabil im Kern, volatil in der Salienz

Eine wichtige Erkenntnis aus der Migrationsforschung betrifft die Stabilität von Einstellungen. So zeigen Studien mit Umfragedaten aus sogenannten Panel-Befragungen, in denen dieselben Personen über mehrere Zeitpunkte (oftmals mehrere Jahre) wiederholt befragt werden, dass sowohl Einstellungen zu Migrant:innen als Personengruppe als auch Einstellungen gegenüber Zuwanderung als politischem Thema über lange Zeiträume bemerkenswert stabil bleiben. Die grundlegenden Haltungen zu Diversität, kultureller Differenz und der wahrgenommenen Bedrohung durch Migration verändern sich kaum. Dies wird auch beim Blick auf allgemeine Trends der öffentlichen Meinung in Form repräsentativer Umfrageergebnisse deutlich. Die zeitlichen Verläufe zeigen nur geringe Veränderungen im Zeitverlauf – sowohl was die Frage nach dem Gefühl der kulturellen Bedrohung durch Zugewanderte angeht (linke Grafik in Abbildung 1) als auch die Frage nach einer Einschränkung von Zuwanderung („Zuwanderungsstopp“) nach Deutschland (rechte Grafik in Abbildung 1).

Abbildung 1: Trends in Einstellungen

Quelle: European Social Survey. Eigene Berechnungen. Punkte zeigen Schätzungen aus Stichprobe, graue Intervalle zeigen wahrscheinlichen Wertebereich trotz möglichem Stichprobenfehler.

Im starken Gegensatz zu dieser Stabilität individueller Einstellungen steht die enorme Volatilität der Wahrnehmung von Migration als gesellschaftlichem Problem. Umfrageergebnisse der Politbarometer-Studien zeigen dramatische Schwankungen in der Einstufung von Migration als „wichtigstes Problem“ in Deutschland:

  • Während der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/16 erreichte dieser Wert einen historischen Höchststand (über 80% der Befragten gaben Migration als wichtigstes Problem an)
  • Im Zuge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und die damit verbundene Migration durch ukrainische Geflüchtete bleibt die Problemwahrnehmung eher gering (um 5%)
  • Im Oktober 2023 folgte ein Anstieg nach Bundeskanzler Scholz‘ Aussage „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“ (Spiegel 43/2023)
  • Nach dem Anschlag in Solingen im August 2024 und den darauffolgenden Landtagswahlen in Ostdeutschland erfolgte ein weiterer scharfer Anstieg
  • Zur Europawahl im Juni 2024 und der Bundestagswahl 2025 wurden ebenfalls Spitzen verzeichnet

Abbildung 2: Themensalienz Migration

Quelle: Politbarometer (monatliche Befragung basierend auf Zufallsstichprobe mit ca. 1000 Befragten). BTW = Bundestagswahl. Eigene Berechnungen.

Diese Diskrepanz zwischen stabilen individuellen Einstellungen und hochvolatiler öffentlicher Problemwahrnehmung deutet auf etwas Fundamentales hin: Es geht weniger um Veränderungen in den Grundhaltungen der Menschen als vielmehr um die Aktivierung vorhandener Einstellungen und ihre politische Instrumentalisierung – insbesondere in Zeiten verstärkter öffentlicher und politischer Debatten (wie bei Wahlen).

Rechtspopulisten als „Polarisierungsunternehmer“

Steffen Mau hat für diesen Prozess den Begriff der „Polarisierungsunternehmer“ geprägt – Akteure, die gezielt Ereignisse nutzen oder sogar konstruieren, um latente Einstellungen zu aktivieren und politisch zu mobilisieren. Die AfD hat sich seit ihrer Gründung als zentraler Polarisierungsunternehmer in der Migrationsdebatte etabliert. Dabei geht es weniger um die konstruktive Lösung des Problems, sondern um die Diskreditierung demokratischer politischer Akteure und Verunsicherung der Bevölkerung – ein Phänomen, das Mau „disruptive Opposition“ nennt – mit dem Ziel möglichst viele Wähler:innen-Stimmen zu bekommen.

Die Strategie folgt dabei einem klaren Muster:

  1. Problemkonstruktion: Einzelereignisse (wie Straftaten mit ausländischen Tatverdächtigen) werden systematisch verstärkt und als Beleg für ein systemisches Versagen dargestellt
  2. Dramatisierung: Die vermeintlichen Probleme werden als existenzielle Bedrohung für die Gesellschaft gerahmt
  3. Schuldzuweisung: Etablierte Parteien werden als verantwortlich für die „Krise“ markiert
  4. Einfache Lösungen: Restriktive Maßnahmen werden als einzig wirksame Antwort präsentiert

Bei der Bundestagswahl 2025 wurde diese Strategie besonders deutlich: Nach dem Solingen-Anschlag im August 2024 gelang es der AfD und anderen rechtspopulistischen Akteuren, die Migrationsdebatte zu dominieren und das Thema als wahlentscheidend zu positionieren – trotz konkurrierender Krisen wie Inflation, Klimawandel und geopolitischen Spannungen.

Öffentliche Diskurse, soziale Normen und das Einstellungs-Verhaltens-Modell

Wie genau funktioniert diese Aktivierung latenter (d.h. vorhanden, aber verborgen) Einstellungen? Das Einstellungs-Verhaltens-Modell von Fishbein und Ajzen bietet hier wichtige Erklärungsansätze. Nach diesem Modell werden Verhaltensintentionen (wie Wahlentscheidungen) nicht nur durch persönliche Einstellungen bestimmt, sondern auch durch subjektive Normen – also die Wahrnehmung dessen, was in der eigenen Bezugsgruppe als akzeptabel gilt.

Vicente Valentim entwickelt in seinem 2025 erschienenen Buch The Normalization of the Radical Right eine überzeugende These dazu: Viele Menschen haben fremdenfeindliche oder rechtsradikale Einstellungen, drücken diese aber aufgrund sozialer Normen nicht aus. Rechtspopulisten durchbrechen diese Zurückhaltung und mobilisieren „stille“ Ansichten, indem sie den Diskurs verschieben und das Sagbare neu definieren.

Diese Normalisierungsthese erklärt einen selbstverstärkenden Kreislauf:

  1. Rechtspopulisten überschreiten bewusst Grenzen des bisher Sagbaren
  2. Medien berichten über diese Grenzüberschreitungen (oft kritisch, aber dennoch verstärkend)
  3. Die Grenzen des öffentlichen Diskurses verschieben sich
  4. Latente Einstellungen werden zunehmend aktiviert und öffentlich artikuliert
  5. Dies wiederum verschiebt die wahrgenommenen sozialen Normen weiter

Der Parteienwettbewerb verstärkt eine Verschiebung der Mitte nach rechts noch weiter: Etablierte Parteien übernehmen zunehmend restriktive Positionen in der Migrationspolitik, um Stimmenverluste zu begrenzen. So belegen empirische Studien, wie rechtspopulistische Rhetorik den politischen Diskurs verroht und Mitte-Parteien zur Übernahme restriktiver Positionen bewegt. Die Folge ist allerdings nicht ein „Zurückgewinnen“ von Wähler:innen am rechten Rand, sondern eine weitere Legitimierung und Normalisierung rechtspopulistischer Positionen, die den Originalanbietern dieser Politik – den rechtspopulistischen Parteien selbst – letztlich mehr nutzt als den Nachahmern aus der politischen Mitte.

Solche Dynamiken werden darüber hinaus durch die mediale Berichterstattung weiter verstärkt. Die Art und Weise, wie über Migration berichtet wird, trägt maßgeblich zur öffentlichen Wahrnehmung bei. Eine Analyse der Berichterstattung verschiedener Medienkanäle zeigt ein deutliches Ungleichgewicht in der Repräsentation: Zugewanderte kommen in der Berichterstattung über Menschen mit Einwanderungsgeschichte selten selbst zu Wort – in nur 12,3% der Berichte sind sie im O-Ton zu hören. Noch gravierender ist die thematische Ausrichtung der Berichterstattung. Während neutrale oder positive Aspekte in vielen Medien in den Hintergrund treten, dominieren negative Darstellungen. Chancen durch Zuwanderung werden deutlich seltener thematisiert. Eine stark verzerrte Darstellung gibt es zudem bei Kriminalitätsberichterstattung: Laut Polizeistatistik waren 2023 etwa 33% der Tatverdächtigen bei Gewaltdelikten Ausländer:innen. In Fernsehberichten werden sie jedoch mit 84% und in Zeitungsberichten mit 82% dramatisch überrepräsentiert (wenn die Herkunft im Bericht genannt wurde).

Diese systematische Verzerrung schafft ein mediales Bild, das Migration primär als Problem und Sicherheitsrisiko darstellt und damit vorhandene Stereotype verstärkt. In Kombination mit der seltenen direkten Einbeziehung von Migrant:innen in die Berichterstattung entsteht eine „Erzählung über“ statt „mit“ Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Diese Verzerrungen schaffen einen fruchtbaren Boden für die Aktivierung latent vorhandener negativer Einstellungen.

Ausblick: Normative Gegenstrategien

Angesichts dieser Entwicklungen stellt sich die Frage nach wirksamen Gegenstrategien. Die Forschung bietet hier einige vielversprechende Ansätze:

  1. Empathiebasierte Darstellung: Studien zeigen, dass Aufklärung mit Zahlen und Fakten oftmals ins Leere laufen. Hingegen können auf Empathie basierende Darstellung von Zugewanderten und ihren Lebenswelten Fremdenfeindlichkeit – zum Beispiel in sozialen Medien – verringern.
  2. Kontakt fördern: Die Kontakthypothese besagt, dass Kontakt zwischen Gruppen Vorurteile verringert, besonders wenn dieser auf gemeinsamer Zielerreichung basiert. Integrationsorte wie Arbeitsstätten, Vereine und Nachbarschaften spielen dabei eine entscheidende Rolle.
  3. Mediale Ausgewogenheit: Eine fairere Berichterstattung, die Migrant:innen nicht überproportional als Täter darstellt und ihnen mehr Gelegenheit gibt, selbst zu Wort zu kommen, könnte verzerrte Wahrnehmungen korrigieren.
  4. Rechtspopulistische Strategien: Aufklärung über die Mechanismen rechtspopulistischer Problemkonstruktion und dem zugrunde liegender Motive kann Bürger:innen weniger anfällig für entsprechende Strategien machen.

Die Bundestagswahl 2025 hat gezeigt, dass der Umgang mit dem Thema Migration einer der zentralen Prüfsteine für die Demokratie im 21. Jahrhundert ist. Nicht die Einstellungen der Deutschen haben sich grundlegend gewandelt – sondern die Art, wie diese aktiviert, politisch mobilisiert und medial verstärkt werden. Um die Demokratie zu stärken, müssen wir ein tieferes Verständnis dieser Prozesse entwickeln und ihnen mit wirksamen normativen Gegenstrategien begegnen.

Literaturhinweise

Abou-Chadi, T., & Krause, W. (2020). The causal effect of radical right success on mainstream parties’ policy positions: A regression discontinuity approach. British Journal of Political Science, 50(3), 829-847.

Berning, C. C., & Schlueter, E. (2016). The dynamics of radical right-wing populist party preferences and perceived group threat: A comparative panel analysis of three competing hypotheses in the Netherlands and Germany. Social Science Research, 55, 83-93.

Kustov, A., Laaker, D., & Reller, C. (2021). The stability of immigration attitudes: Evidence and implications. The Journal of Politics, 83(4), 1478-1494.

Mau, S., Lux, T., & Westheuser, L. (2023). Triggerpunkte: Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft | Warum Gendersternchen und Lastenfahrräder so viele Menschen triggern. Suhrkamp Verlag.

Mediendienst Integration: https://mediendienst-integration.de/artikel/migration-in-den-medien-ein-verzerrtes-bild.html

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert