Von Lisa Heilmann
Seit 2019 finden in der Bundesrepublik Deutschland Bürgerräte auf Bundesebene statt. 2023 fand der erste durch den Bundestag selbst beauftragte Bürgerrat zum Thema „Ernährung im Wandel“ statt, weitere werden erwartet. Eine Übersicht zu Bürgerräten und ihrer Wirkung ist in diesem Blogbeitrag zu finden.
Bürgerräte gehören wie alle mini-publics (Gremien, in denen eine Gruppe zufällig ausgewählter Bürger:innen zusammenkommt, die repräsentativ für eine größere Grundgesamtheit sein sollen) zu den deliberativen Verfahren der Bürgerbeteiligung: Durch eine kleine Gruppengröße und der offenen Diskussion zu einer bestimmten Fragestellung, die durch eine erfahrene Moderation begleitet wird, kann Deliberation zwischen den Bürger:innen stattfinden: eine Kommunikationsform, die es ermöglichen soll, für jedes Problem die beste Lösung zu finden. In einer Deliberation darf es keine Hierarchien zwischen den Sprechenden geben. Alle müssen zu Wort kommen, alle müssen den anderen zuhören und aufeinander reagieren. Denn nur wenn alle Argumente begründet auf den sprichwörtlichen Tisch kommen, und gegeneinander abgewogen werden, kann die wirklich beste Lösung gefunden werden. Und die teilnehmenden Bürger:innen müssen bereit sein, sich von dieser überzeugen zu lassen.
Deliberation ist eine Kommunikationsform, die unter den richtigen Voraussetzungen prinzipiell überall stattfinden kann. Die Forschenden der deliberativen Demokratietheorie sprechen in diesem Zusammenhang vom deliberativen System: Deliberation findet nicht nur in speziellen Verfahren und Foren statt, sondern kann (und sollte aus normativer Perspektive) auch in Parlamenten oder Dialogen zwischen Zivilgesellschaft und Politik, aber auch im Alltag, in Cafés, Kneipen und an Abendbrottischen stattfinden.
Damit dies aber überhaupt möglich ist, muss deliberative Kapazität existieren: Das System und damit auch die Bürger:innen darin müssen Deliberation als sinnvoll und erstrebenswert ansehen, und die Möglichkeit haben, sie auch im Alltag umzusetzen. Dafür müssen Informationen verfügbar sein, Menschen müssen aber auch in der Lage sein, diese zu verstehen, einzuordnen und miteinander zu kommunizieren. All dies muss in gegenseitigen Respekt, Empathie und Vertrauen eingebettet sein.
Können Bürgerräte dazu beitragen, die deliberative Kapazität der Öffentlichkeit in Deutschland zu steigern?
Was die Steigerung von Informationen und Wissen angeht, so gibt es empirische Evidenz, dass Bürgerräte hier einen positiven Effekt auf die Öffentlichkeit haben. Wenn Bürger:innen Informationen zu mini-publics und ihren Empfehlungen bekommen, dann steigt ihr politisches Wissen. Eine Darstellung von Pro- und Contra-Argumenten hingegen schwächt diesen Effekt, führt aber auf der anderen Seite dazu, dass Empathie für gegensätzliche Meinungen aufgebaut wird, was ebenfalls deliberative Kapazität stärkt. Der Einfluss auf kommunikative deliberative Fähigkeiten ist noch nicht umfassend untersucht, aber auch dieser ist im Sinne einer Vorbildwirkung denkbar.
Die grundsätzliche Voraussetzung für einen Einfluss von Bürgerräten auf die deliberative Kapazität der Gesellschaft ist, dass eine Verbindung zur Öffentlichkeit besteht, beispielsweise über eine umfangreiche Medienberichterstattung, die auch die deliberativen Praktiken positiv beleuchtet. Dies wurde in einer Untersuchung im Rahmen einer Masterarbeit mithilfe einer quantitativen Inhaltsanalyse analysiert. Dafür wurden Artikel der Leitmedien Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung und dem Spiegel zwischen 2019 und 2022 untersucht. Aufgrund der Theorien zur deliberativen Demokratie wurde ein deduktives Kategoriensystem entwickelt, das am Text geprüft, überarbeitet und schließlich als Codebuch angewandt wurde. Dabei wurde sowohl auf Artikelebene als auch auf Aussagenebene kodiert.
In 74% der Artikel wurden Bürgerräte (als Konzept oder anhand konkreter Beispiele) mindestens eher positiv bewertet. In der Hälfte aller Artikel fand sich ein Aufruf zur Durchführung weiterer Bürgerräte. Die positive Bewertung ist aber nur in 37% der Aussagen an Deliberation geknüpft. In nur 42% der Artikel wird mindestens eine deliberative Eigenschaft von Bürgerräten erwähnt, wobei Deliberation in 88% dieser Artikel positiv dargestellt wird. Dabei ist es aber so, dass auf Aussagenebene der Austausch von Argumenten als häufigste Eigenschaft erwähnt wurde, während der ebenfalls wichtige Aspekt der Änderung des Standpunktes durch die Teilnehmenden nur in 9% der Aussagen zu Deliberation vorkommt.
Das zeigt, dass die Berichterstattung in den ausgewählten Artikeln zwar überwiegend positiv und auch Deliberation gegenüber positiv, aber nicht umfassend ist. In der Interpretation der Ergebnisse bleibt die Frage offen, ob eine positive Darstellung von Bürgerräten ausreicht, um deliberative Kapazität zu steigern, oder ob eine detailliertere Berichterstattung zu den deliberativen Eigenschaften notwendig ist.
Diese Ergebnisse decken sich mit der Einschätzung der deliberativen Demokratietheoretiker:innen, nach denen Medien zwar potenziell ein entscheidendes verbindendes Element sein können, aktuell aber dazu beitragen, dass zwischen den verschiedenen Teilen des Systems nicht genügend Verbindungen bestehen. Die Berichterstattung nach Nachrichtenwerten wie Aktualität und Prominenz steht einer Berichterstattung über deliberative Eigenschaften grundsätzlich entgegen.
Eine vertiefte Erforschung dieses Themas ist notwendig. Dazu sollte eine breitere Auswahl an Medien herangezogen werden. Außerdem ist die Untersuchung des direkten Einflusses des Lesens von unterschiedlich geframten Artikeln in experimentellen Designs wichtig, um den tatsächlichen Effekt auf den:die Leser:in besser zu verstehen.
Eine weitere Forschungslücke besteht allgemein bei den Einflussfaktoren auf deliberative Kapazität. Andere mediale Vermittlungen von Bürgerräten, z.B. über soziale Netzwerke und durch Influencer:innen, sollten untersucht werden, um ein tieferes Verständnis zum Einfluss von Bürgerräten zu erlangen. Außerdem könnten Untersuchungen zum Einfluss von (politischer) Bildung und der Zivilgesellschaft auf die Entwicklung deliberativer Kapazität, gegebenenfalls auch im Zusammenspiel mit Bürgerräten, weitere Erkenntnisse bringen.
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