Unterscheidet sich die Wahlbeteiligung bei der Europawahl zwischen Ost- und Westdeutschland?

european parliament in strasbourg france

Von Jakob Eicheler

Eine Kurzanalyse zur Europawahl in Deutschland aus regionalstruktureller Perspektive

Die Europawahl 2024 fand vom 6. bis zum 9. Juni 2024 in den 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union statt. Dabei wurden die 720 Abgeordneten des Europäischen Parlaments gewählt. Deutschland stellt mit 96 Abgeordneten die größte nationale Gruppe.

In diesem Blogbeitrag gehe ich der Frage nach, welche Merkmale der Kreise und kreisfreien Städte (ab hier wird mit „Kreisen“ beides bezeichnet) mit der Wahlbeteiligung bei der Europawahl 2024 zusammenhängen. Dazu nutze ich die Ergebnisse der Europawahl und Strukturdaten, die von der Bundeswahlleiterin (2024) veröffentlicht werden. 

Beschreibung der Wahlbeteiligung

Die Wahlbeteiligung in Deutschland lag bei der Europawahl 2024 mit 64,8 % etwas höher als bei der letzten Europawahl am 26. Mai 2019 (mit damals 61,4 %). Zwischen den Kreisen gibt es jedoch große Unterschiede in der Wahlbeteiligung: Während sie deutschlandweit mit 47,5 % in Bremerhaven am niedrigsten lag, wurde in St. Wendel im Saarland mit 75,4 % die höchste Wahlbeteiligung verzeichnet. Beide Kreise liegen in Westdeutschland.

Die Karte zeigt, dass Kreise mit hoher und niedriger Wahlbeteiligung sowohl in Ost- als auch in West-Deutschland zu finden sind. Ein eindeutiges Muster ist in der Karte nicht zu erkennen. In Ostdeutschland variierte die Wahlbeteiligung auf Ebene der Kreise zwischen 72,8 % in Dresden und 56,6 % in Nordhausen.

Eigene Kartendarstellung basierend auf Bundeswahlleiterin (2024).

Welche strukturellen Merkmale hängen mit der Wahlbeteiligung auf regionaler Ebene zusammen?

In diesem Abschnitt gehe ich der Frage nach, welche strukturellen Faktoren statistisch mit einer höheren Wahlbeteiligung in den Kreisen zusammenhängen. Besonderes Augenmerk lege ich dabei darauf, ob sich die Wahlbeteiligung zwischen Ost- und Westdeutschland strukturell unterscheidet.

Verwendete strukturelle Merkmale der Kreise

Zur Wahlbeteiligung bei der Europawahl liegen kleinräumig nur Daten auf der Ebene der Kreise vor. Bei der Interpretation der Ergebnisse ist zu beachten, dass aggregierte, also auf einer höheren Ebene zusammengefasste Daten, keine Rückschlüsse auf individuelle Entscheidungen zur Wahl oder Nichtwahl erlauben. Dies wäre ein so genannter ökologischer Fehlschluss (King, 1997). Wenn zum Beispiel in Kreisen mit höherer Erwerbsbeteiligung auch die Wahlbeteiligung höher liegt, muss dies nicht bedeuten, dass Erwerbstätige häufiger wählen gehen als Nicht-Erwerbstätige. 

Ich verwende mehrere strukturelle Merkmale der Kreise, die mit der Wahlbeteiligung zusammenhängen könnten. Zuerst sind dies sozio-geografische Variablen: Eine Variable zeigt an, ob ein Kreis in einem ostdeutschen Bundesland liegt. Studien haben gezeigt, dass die Identifikation mit der Europäischen Union in Ostdeutschland geringer ist als in Westdeutschland (Datler, 2016). Eine geringere EU-Identifikation könnte zu geringerem Interesse an der EU-Wahl und so zu geringerer Wahlbeteiligung führen. Zusätzlich verwende ich eine Variable, die die Bevölkerungsdichte des Kreises angibt. Je dünner ein Gebiet besiedelt ist, desto weiter sind sowohl die Wege zur Stimmabgabe, als auch die Wege, die Wahlkampagnen auf sich nehmen müssen, um Bürger*innen direkt zu erreichen. 

Ich berücksichtige auch soziodemografische Variablen: Dies ist zum einen der Altersquotient, der sich aus der Zahl junger Menschen unter 25 Jahren im Verhältnis zur Zahl älterer Menschen über 60 Jahren im Kreis ergibt. Der geringste Wert liegt in Mansfeld-Südharz bei 0,47 und bedeutet, dass dort auf einen unter 25-Jährigen etwa zwei über 60-jährige Menschen kommen. Ältere Menschen gehen häufiger zur Wahl, was im Aggregat die Wahlbeteiligung beeinflussen könnte.

Die nächste Variable drückt den Anteil der Personen aus, die in dem Kreis Leistungen nach dem SGB II beziehen. Dabei handelt es sich vornehmlich um Empfänger*innen des sogenannten Bürgergeldes. Zahlreiche politikwissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass die Erfahrung von Arbeitslosigkeit politisches Interesse und politische Beteiligung reduzieren kann. Eine weitere ökonomische Variable misst das verfügbare Einkommen in tausenden von Euro pro Haushalt im Kreis. Neben Arbeitslosigkeit spielt auch der sonstige sozio-ökonomische Status eine Rolle für die politische Partizipation.

Außerdem verwende ich den Anteil der Schulabgehenden ohne Hauptschulabschluss. Damit lässt sich das Bildungsniveau im Kreis zumindest annähernd abbilden. Auf individueller Ebene gilt Bildung als einer der stärksten Einflussfaktoren auf die politische Beteiligung.

Schließlich verwende ich noch eine Variable, die den Anteil an nicht-deutschen Einwohner*innen des Kreises misst. Bei Europawahlen sind auch nicht-deutsche EU-Ausländer*innen wahlberechtigt und könnten die Wahlbeteiligung beeinflussen. Gleichzeitig könnte ein hoher Anteil von nicht-wahlberechtigten Einwohner*innen auch die Beteiligung der Wahlberechtigten beeinflussen, etwa weil die Norm zur politischen Beteiligung schwächer ausgeprägt ist.

Ergebnisse

Im ersten, einfachen Regressionsmodell mit der abhängigen Variablen der Wahlbeteiligung verwende ich als unabhängige Variable nur die Zugehörigkeit des Kreises zu einem ostdeutschen Bundesland. Hier zeigt sich, dass sich die Wahlbeteiligung in diesem einfachen Vergleich nicht zwischen West- und Ostdeutschland unterscheidet: Zwar schätzt das Modell die Wahlbeteiligung in Ostdeutschland um etwa 0,4 Prozentpunkte höher, jedoch ist der Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland nicht statistisch signifikant. Im zweiten Modell unter Hinzunahme der strukturellen Merkmale zeigt sich dann jedoch in Ostdeutschland eine signifikant höhere Wahlbeteiligung bei der Europawahl 2024 als in Westdeutschland. Dieser Unterschied ist mit etwa 2 Prozentpunkten auch von substanzieller Relevanz. 

Betrachten wir die strukturellen Merkmale, so bestätigen sich die meisten Erwartungen: Die Wahlbeteiligung ist bei einer höheren Bevölkerungsdichte signifikant höher. Der Effekt des Altersquotienten gestaltet sich anders als erwartet: Je mehr jüngere im Verhältnis zu älteren Einwohner*innen im Kreis leben, desto höher ist im Schnitt die Wahlbeteiligung. Sozio-ökonomische Variablen haben den erwarteten Effekt: Mit niedrigerer SGB-II-Quote und höherem verfügbaren Durchschnitts-Haushaltseinkommen ist eine höhere Wahlbeteiligung verbunden. Schließlich zeigt auch der Anteil nicht-deutscher Einwohner*innen einen signifikanten Zusammenhang mit der Wahlbeteiligung: Wo mehr nicht-deutsche Einwohner*innen leben, ist die Wahlbeteiligung geringer.

Im dritten Modell habe ich schließlich die strukturellen Variablen (mit Ausnahme der Zugehörigkeit zu Ostdeutschland) standardisiert. Die Koeffizienten der standardisierten Variablen geben somit nicht mehr die geschätzte Veränderung der Wahlbeteiligung bei Veränderung der Variable um eine Einheit, sondern um eine Standardabweichung an. Das ermöglicht den Vergleich der Effektstärken. Dabei zeigt sich, dass die Höhe des Anteils der nicht-deutschen Einwohner*innen das strukturelle Merkmal ist, welches am stärksten mit der Wahlbeteiligung zusammenhängt. Danach folgt jedoch schon die Zugehörigkeit eines Kreises zu Ostdeutschland.

Regressionsergebnisse
Abhängige Variable
Wahlbeteiligung
(1)(2)(3)
In Ostdeutschland0.4142.008***2.008***
(0.563)(0.560)(0.560)
Bevölkerungsdichte0.001***
(0.0004)
Quote U25- zu Ü60-Jährige11.647***
(1.738)
SGB-II-Quote-0.035***
(0.009)
Haushaltseinkommen0.001***
(0.0001)
Anteil Schulabgänger*innen ohne Hauptschulabschluss-0.098
(0.081)
Anteil nicht-deutsche Einwohner*innen-0.546***
(0.053)
Std. Bevölkerungsdichte0.964***
(0.273)
Std. Quote U25- zu Ü60-Jährige1.762***
(0.263)
Std. SGB-II-Quote-1.052***
(0.273)
Std. Haushaltseinkommen1.771***
(0.228)
Std. Anteil Schulabgänger*innen ohne Hauptschulabschluss-0.243
(0.202)
Std. Anteil nicht-deutsche Einwohner*innen-3.080***
(0.299)
Konstante64.244***45.794***63.941***
(0.245)(3.113)(0.189)
Observations400400400
R20.0010.5080.508
Adjusted R2-0.0010.4990.499
Residual Std. Error4.416 (df = 398)3.125 (df = 392)3.125 (df = 392)
F Statistic0.541 (df = 1; 398)57.707*** (df = 7; 392)57.707*** (df = 7; 392)
Note:*p<0.1; **p<0.05; ***p<0.01

Lineare Regressionsmodelle mit OLS-Schätzung

Zusammenfassung

Unterscheidet sich die Wahlbeteiligung bei der Europawahl 2024 zwischen Ost- und Westdeutschland? Diese Frage ist nicht eindeutig zu beantworten. Der Blick auf die Karte der Wahlbeteiligung und ein einfaches Regressionsmodell zeigten zunächst keine Unterschiede in der Wahlbeteiligung bei der Europawahl 2024 zwischen Ost- und Westdeutschland. Im umfangreicheren Modell zeigte sich jedoch, dass die Wahlbeteiligung im Osten Deutschlands unter Berücksichtigung struktureller Merkmale um etwa 2 Prozentpunkte höher geschätzt wurde als im Westen.

Das Beispiel zeigt, dass bei der Analyse von Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschland die Berücksichtigung von regionalstrukturellen Faktoren eine wichtige Rolle spielt. Nur auf Ost-West-Unterschiede zu blicken, hätte die hohe politische Beteiligung in den ostdeutschen Bundesländern unterschätzt.

Abschließend sei daran erinnert, dass die Ergebnisse auf aggregierten Daten auf der Ebene der Kreise beruhen. Sie sollten daher auch als solche interpretiert werden, und nicht auf mögliche Zusammenhänge auf individueller Ebene übertragen werden.

Literatur

Bundeswahlleiterin. (2024). Strukturdaten—Die Bundeswahlleiterin. https://www.bundeswahlleiterin.de/europawahlen/2024/strukturdaten.html

Datler, G. (2016). European identity as a safeguard against xenophobia?: A differentiated view based on identity content. In Dynamics of National Identity. Routledge.

King, G. (1997). A solution to the ecological inference problem: Reconstructing individual behavior from aggregate data. Princeton Univ. Press.

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