Von Finn Schenkin
[Redaktioneller Transparenzhinweis: Der Autor arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter für die SPD Landtagsabgeordnete Dilek Engin in Nordrhein-Westfalen]
In vier Wochen findet die vorgezogene Bundestagswahl statt. Auf Plakaten, in den sozialen
Medien und im Fernsehen sehen wir immer wieder die Spitzenkandidierenden der
Parteien. Auf dem Wahlzettel geben wir unsere Erststimme aber einer ganz anderen
Person: dem Kandidierenden unseres Wahlkreises. Auch sie sind Vertreterinnen ihrer Partei und bilden das Band zwischen Parlament und Wählerinnen vor Ort. In diesem
Blogbeitrag geht es um den Einfluss der Wahlkreiskandidierenden auf unsere Wahlabsicht:
Wer ist überhaupt der oder die typische Wahlkreiskandidierende? Und kann sie oder er
uns nicht nur in Bezug auf unsere Erststimme, sondern auch bei der Wahl unserer
Zweitstimme überzeugen?
Im Rahmen meiner Masterarbeit wurde diese Fragestellung mit Daten der German
Longitudinal Election Study (GLES) für die Bundestagswahl 2017 untersucht. An der
Vorwahlbefragung nahmen 2179 Personen teil. Der dualistisch geprägte Wahlkampf 2017
zwischen den Spitzenkandidierenden Angela Merkel (CDU/CSU) und Martin Schulz (SPD)
bietet sich für eine Unterscheidung nach Parteikontext an: Haben Wahlkreiskandidierende
der CDU/CSU oder der SPD einen unterschiedlichen Einfluss auf die Wahlabsicht?
Wie ein Trichter und unsere Wahlabsicht zusammenhängen
Wo wir unser zweites Kreuz auf dem Wahlzettel setzen, erklärt ein sozialpsychologischer
Ansatz, der in der Wahlforschung als Michigan- oder Ann-Arbor-Modell bekannt ist.
Folgende Faktoren führen gemäß diesem Modell zur Wahlabsicht: die persönliche
Identifikation mit einer Partei, die angebotenen Lösungen für Sachfragen (issues) sowie
die Orientierung an die Kanzlerkandidierenden. Letztere Orientierungsmöglichkeit lässt
sich ebenso auf Wahlkreiskandidierende übertragen und als neuer Erklärungsfaktor dem
Modell hinzufügen. Das Ganze ist bildlich als „Kausalitätstrichter“ zu verstehen: Je näher
die Wahl rückt, desto näher ist die Mündung des Trichters. Ist die Parteiidentifikation noch
weit von der Mündung entfernt und eine tiefsitzende psychologische Einstellung, so sind
Problemlösungs- und Kandidierenden-Orientierungen näher an der Mündung und volatiler.
Sie beeinflussen sich teilweise gegenseitig. Mit anderen Worten: Wer z.B. eine starke Bindung zur Partei hat, nimmt auch deren Wahlkreiskandidierende positiver wahr.
Abbildung 1: Wahlkreiskandidierende im „Kausalitätstrichter“ nach dem Michigan-Modell
Das Modell lässt sich im GLES-Datensatz mit den in der Wahlforschung üblichen
Operationalisierungen umsetzen. Für die Orientierung an Wahlkreiskandidierende wurde
eine Frage nach der persönlichen Einstellung zum Kandidierenden in Form einer
elfstufigen Likert-Skala verwendet. Zur Kontrolle der Modelle fließen auch
soziodemografische Variablen ein (Alter, Geschlecht, formale Bildung). Die zu erklärende
Variable ist in einem Modell die Wahlabsicht für die CDU/CSU, im anderen die Wahlabsicht
für die SPD. Alle Variablen wurden daher für zwei Vergleichsmodelle, im CDU/CSU- und
im SPD-Kontext, operationalisiert.
Um die kausale Wirkungskette abzubilden, erfolgte die Analyse mit Pfadmodellen. Diese
schätzen mehrere Regressionen simultan und decken so indirekte Einflüsse zwischen den
Einflussfaktoren auf. Über die Wahlkreisnummer aus einem von der Bundeswahlleiterin zur
Verfügung gestellten Datensatz konnten die Personendaten der Kandidierenden den
Wahlkreisen der Befragten aus dem GLES-Datensatz zugeordnet werden. Somit kann
nachvollzogen werden, welche Kandidierende wie bewertet wurden.
Wer für Wahlkreise kandidiert und wie die Person wahrgenommen wird
Ein erster Befund: Ein Großteil kennt ihren CDU/CSU- oder SPD-Kandidierenden aus dem
Wahlkreis nicht. Während 37 Prozent ihren CDU/CSU-Kandidierenden namentlich kennen,
sind es bei SPD-Kandidierenden nur 29 Prozent. Die Abbildung (2) zeigt: Grundsätzlich
werden Wahlkreiskandidierende eher positiv bewertet. Oft fallen die Bewertungen neutral
aus; besonders bei SPD-Kandidierenden. Hier fehlen den Befragten eventuell Informationen
zur Meinungsbildung.
Abbildung 2: Bewertung der Wahlkreiskandidierenden von CDU/CSU und SPD (unter der
Voraussetzung, sie namentlich zu kennen)
Und wer sind die Wahlkreiskandidierenden dieser Stichprobe? Projiziert man die
durchschnittlichen Merkmale auf eine Person, so wäre der typische Kandidat männlich, um
die 50 Jahre alt und bereits ein Mitglied des deutschen Bundestags. Insgesamt sind etwas
mehr als die Hälfte der Kandidierenden bereits Bundestagsabgeordnete. Zwischen den
Parteien fällt ein Merkmal ins Auge: Während bei der CDU/CSU nur jede fünfte Person
weiblich ist, ist es bei der SPD jede dritte.
Der Blick aufs Gesamtmodell: Entscheiden Wahlkreiskandidierende Wahlen?
Die Abbildung (3) zu einer Regression im Pfadmodell zeigt die sich verändernden
vorhergesagten Wahrscheinlichkeiten, sein Kreuz bei der CDU/CSU bzw. der SPD zu
machen, je nach Ausprägung der Wahlkreiskandidierenden-Orientierung.
Abbildung 3: Vorhergesagte Wahrscheinlichkeiten der Wahlkreiskandidierenden- Orientierung auf die Wahlabsicht unter Einbezug anderer Einflussfaktoren
Für die CDU/CSU-Wahlabsicht nehmen Wahlkreiskandidierende eine wichtige Rolle ein. Das zeigen die vorhergesagten Wahrscheinlichkeiten unter der Konstanthaltung aller anderen Variablen: Allein eine positive Einstellung zur kandidierenden Person führt sichtbar zu einer höheren Wahrscheinlichkeit, das Kreuz bei der CDU/CSU zu machen. Hat eine Person eine sehr positive Einstellung zum CDU/CSU-Wahlkreiskandidierenden, so ist die vorhergesagte Wahrscheinlichkeit für sie, die CDU/CSU zu wählen, um 22 Prozentpunkte höher als bei einer Person mit einer sehr negativen Einstellung zum gleichen Kandidierenden.
Ganz anders sieht es bei der SPD aus: Im Modell haben die SPD-Kandidierende kaum einen sichtbaren Einfluss auf die SPD-Wahlabsicht. Die Wähler*innen scheinen sich bei ihrer Zweitstimme für die SPD nur wenig bis gar nicht an die Kandidierenden vor Ort zu orientieren. Zum Vergleich: Die vorhergesagte Wahrscheinlichkeit für die SPD-Wahlabsicht erhöht sich zwischen einer Person mit einer sehr negativen Einstellung zum SPD-Kandidierenden und einer Person mit einer sehr positiven Einstellung um lediglich drei Prozentpunkte. In der Berechnung ist dieser Effekt nicht signifikant und kann nicht mit Sicherheit angenommen werden.
Weder bei den CDU/CSU- noch bei den SPD-Kandidierenden ließ sich ein Einfluss des Bundestagsmandats feststellen, was durch einen Interaktionsterm getestet wurde. Wähler*innen orientieren sich für ihre Zweitstimme an neuen Kandidierende genauso viel oder wenig wie an Kandidierende, die bereits im Bundestag sitzen.
Und wie sehr orientieren sich Wähler*innen an Wahlkreiskandidierenden im Vergleich zu Kanzlerkandidierenden, Sachfragen-Lösungen der Parteien und ihrer Identifikation mit der Partei? Abbildung (4) zeigt einen Vergleich zwischen den Einflüssen der vier Erklärungsfaktoren des Modells auf die Wahlabsicht. So wird sichtbar, dass die Einstellung zu den CDU/CSU-Kandidierenden die Zweitstimme ähnlich stark beeinflusst wie zur Spitzenkandidatin Angela Merkel und zu den angebotenen Lösungen. Für diejenigen, die sich ihr Kreuz für die SPD überlegen, sind Wahlkreiskandidierende verglichen mit anderen Faktoren wenig relevant. In beiden Kontexten ist die tiefsitzende Einstellung Parteiidentifikation die stärkste Erklärung der Wahlabsicht.
Abbildung 4: Durchschnittliche marginale Effekte der vier Einflüsse auf die Wahlabsicht
im CDU/CSU- und SPD-Modellvergleich mit 95%-Konfidenzintervallen
Fazit: Gute Wahlkreiskandidierende, gute Chancen auf die Zweitstimme
Die Masterarbeit zeigt: Wahlkreiskandidierende können die Wahlabsicht für die Zweitstimme einer Person beeinflussen. Mit den verwendeten Daten besteht dieser Effekt nur bei Kandidierenden der CDU/CSU. Das überrascht, schließlich ähnelt sich die durchschnittliche kandidierende Person der CDU/CSU und der SPD. Eventuell kommt der Unterschied auch durch geringere Fallzahlen im SPD-Modell zustande. Zumindest für die CDU/CSU lässt sich annehmen: Gute Wahlkreiskandidierende führen zu mehr Prozentpunkten bei den Zweitstimmen. Auch bei der Bundestagswahl in vier Wochen wird das Wahlergebnis bei weitem nicht nur eine Frage der Wahlkreiskandidierenden sein, aber sie werden es beeinflussen können. Dafür müssen viele auch an ihrer Bekanntheit im Wahlkreis arbeiten.
ANHANG
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