von Manuel Diaz Garcia und Jonas Elis
Die hier präsentierte Studie ist ein Pilotprojekt zur Europawahl 2024 in der Stadt Duisburg, das in Kooperation mit Achim Goerres und Sabrina J. Mayer entstanden ist. Es liefert erste Einblicke in die praktische Machbarkeit und erwartbare Effekte für die geplante Studie zur Kommunalwahl 2025 in verschiedenen Großstädten NRWs. Ein besonderer Dank gilt allen Menschen, ohne die dieses Unterfangen unmöglich gewesen wäre: Alexander Diepen, Anna Diepen, Jakob Eicheler, Paul Gies, Hayfat Hamidou-Schmidt, Teresa Hummler, Philipp Kemper, Aaron Knipper, Katrin Kruse, Johanna Plenter, Alina Senkel, Jonas Verlande und Paul Vierus.
Duisburg. Mai 2024. Ein erstes Gefühl von Sommer liegt in der Luft. “Jetzt ein Kaltgetränk”, denkt sich Emilia und spaziert zum nächstgelegenen Kiosk. Hier kauft sie schon lange ein. Mal ein kleiner Snack, mal ein Kaffee auf dem Weg zur Arbeit, mal das erste Bier nach einem anstrengenden Tag. Junus kennt sie mittlerweile gut. Mit dem Besitzer des Ladens hat sie vor Jahren recht schnell eine Wellenlänge gefunden. Aber heute ist irgendwas anders. An der Fensterscheibe hängt ein Poster, das Emilia so noch gar nicht gesehen hat. „Das Übliche! Und was ist das hier?“, fragt sie Junus, „und warum ist da ein Foto von dir drauf?“. So erfährt sie von der anstehenden Europawahl und dass Junus darauf aufmerksam machen möchte. „Wenn Junus sich so dafür interessiert, dann muss diese Wahl ja irgendwie wichtig sein – ob ich mir das mal anschauen sollte?“, denkt sich Emilia. Sie zahlt, greift nach ihrem Getränk und verliert sich auf dem Weg nach Hause in Gedanken.
Der soziale Wert von Wahlen
Unsere alltäglichen Erfahrungen prägen maßgeblich, wie wir denken und uns verhalten. Wenn wir von anderen Menschen signalisiert bekommen, dass etwas wichtig ist – wie Emilia im Beispiel oben – sind wir eher dazu geneigt, uns mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Wahlen können ein solches Thema sein. Die politikwissenschaftliche Forschung hat gezeigt, dass unsere politischen Einstellungen und unser Verhalten entscheidend von unserem Umfeld beeinflusst werden – vor allem, wenn wir Informationen von vertrauenswürdigen und uns nahestehenden Menschen bekommen. Häufig ist unser Umfeld die erste Quelle für politische Informationen oder wirkt als Filter, durch den uns Informationen aus Medien erreichen. Diskussionen mit Freunden oder der Familie können unsere Einstellungen, Parteipräferenzen oder unser Wahlverhalten beeinflussen. Des Weiteren kann uns sozialer Druck zur Wahl bewegen, wenn wir beispielsweise davon ausgehen müssen, dass unsere Nachbarn erfahren, ob wir wählen oder nicht.
Aber lässt sich der soziale Wert von Wahlen auch steigern, indem sie prominenter im relevanten lokalen Raum platziert werden? Und können wir dadurch mehr Menschen zur Wahl bewegen?
Genau dieser Frage sind wir in einem Feldexperiment in der Stadt Duisburg zur Europawahl 2024 nachgegangen. Das Ziel war, die soziale Bedeutung der Europawahl auf drei Wegen zu steigern: Durch die Erinnerung an die Wahl im lokalen Raum, die Verbindung der Wahl mit lokalen Gesichtern – in unserem Fall Kioskbesitzer*innen – und durch so entstehende Konversationen über die Europawahl.
Die Kiosklandschaft in Duisburg
Die Voraussetzung für das Funktionieren unserer Studie ist zum einen eine ausreichende Anzahl an Kiosken und zum anderen eine regelmäßige Nutzung dieser Kioske durch die Anwohner*innen. Eine automatisierte Suche von Kiosken im gesamten Duisburger Stadtgebiet per Google Maps liefert hier erste Hinweise[1]. Bei der Stadt Duisburg handelt es sich um eine Stadt mit einer ausgeprägten Kiosklandschaft – insgesamt finden wir 125 Kioske. Diese verteilen sich über das gesamte Stadtgebiet von Nord nach Süd. Die Verteilung von Kiosken in Duisburg legt den Grundstein dafür, dass diese auch in ausreichendem Maße von der Wohnbevölkerung genutzt werden können.
Eine Umfrage parallel zum Feldexperiment gibt erste Hinweise auf die Bedeutung dieser Kioske für die Bevölkerung. 47% der Befragten berichten, dass sie in den vergangenen vier Wochen einen Kiosk besucht haben. Insgesamt geben 33% der Befragten an, regelmäßig denselben Kiosk zu besuchen. 26% sagen uns, dass sie zwar regelmäßig aber immer verschiedene Kioske besuchen. Diese Ergebnisse stimmen positiv: Der Kiosk scheint eine relevante Bedeutung für die Duisburger Wohnbevölkerung zu haben.
Die Organisation eines Feldexperiments
Für die Forschungspraxis stellt sich jedoch die Frage, wie man sich diese Rolle von Kiosken für die Bevölkerung zunutze macht, um den sozialen Wert einer Wahl zu steigern. Zunächst müssen wir festlegen, wie wir die potenzielle Bedeutung unseres Feldexperiments für die Wahlbeteiligung messen. Dazu betrachten wir die kleinstmögliche geografische Einheit, für die man im Anschluss an eine Wahl die exakte Wahlbeteiligung festlegen kann: den Briefwahlbezirk. Briefwahlbezirke bestehen in der Regel aus zwei bis drei Urnenwahlbezirken, die eindeutig räumlich definiert sind. Zur Europawahl waren dies in Duisburg 105 Briefwahlbezirke, in denen im Schnitt ungefähr 3000 Wahlberechtigte leben. Die Frage wird damit konkreter: Geben in Briefwahlbezirken mit gesteigertem sozialem Wert der Europawahl auch mehr Menschen ihre Stimme ab?
Abbildung 1 stellt visuell dar, wie wir es geschafft haben zwischen Bezirken mit höherem und niedrigerem sozialem Wert zu unterscheiden. Aus den zuvor genannten 105 Bezirken wurden zunächst nur die Bezirke selektiert, die mindestens einen Kiosk aufwiesen. Aus diesen wurde eine zufällige Auswahl von 40 Bezirken gezogen. Auf Basis von Ähnlichkeit bezüglich der Wahlbeteiligung bei der vergangenen Bundestagswahl 2021 sowie der Anzahl an Kiosken in diesem Bezirk wurden dann 20 Pärchen gebildet. Für jedes Pärchen wurde schließlich zufällig entschieden, welcher Bezirk das Treatment bekommt und welcher Bezirk nicht. So schaffen wir uns eine Vergleichsbasis, die in der Analyse eine Aussage darüber zulässt, ob diese Steigerung des sozialen Wertes einen Einfluss auf die Wahlbeteiligung auf Briefwahlbezirksebene hat.
Abbildung 1: Strategie der Auswahl und Zufallszuteilung aus den 105 Duisburger Briefwahlbezirken.
Wie sah dieses Treatment aus? Womit wollten wir erreichen, dass die Menschen in ihrer Nachbarschaft an die Wahl erinnert werden, die Wahl mit ihrem lokalen Umfeld verknüpfen und häufiger über die Wahl sprechen? Hier kommen die zuvor erwähnten Kioske und ihre Besitzer*innen ins Spiel. Abbildung 2 zeigt Poster, die zur Wahl aufrufen („Duisburg, auf zur Wahl!“) und die Gesichter von Kioskbesitzer*innen hervorheben. In jedem der ausgewählten Briefwahlbezirke wurden bis zu zwei Kioske mit Postern versehen. Diese Poster wurden am jeweiligen Kiosk in möglichst prominenter und sichtbarer Weise angebracht. Von einem möglichst ansprechenden Design erwarten wir, dass Menschen wie Emilia, die regelmäßig einen Kiosk besuchen, auf diese Poster aufmerksam werden. Der Aufruf soll direkt an die Wahl erinnern. Zusätzlich sind grundlegende Informationen zur Wahl wie die Bedingungen zur Wahlberechtigung auf dem Poster vermerkt. Die Gesichter der Kioskbesitzer*innen sollen eine Verbindung zu bekannten Personen aus der lokalen Umgebung herstellen. Schlussendlich soll das Poster zu Gesprächen über die Wahl mit anderen Kioskbesucher*Innen und auch mit den -besitzer*innen führen.
Abbildung 2: „Duisburg, auf zur Wahl!“ vermittelt durch Kioskbesitzer*innen auf Plakaten an ihren Büdchen in Duisburg
Die Mobilisierung von Wähler*innen an der Urne und per Brief
Wie gut unser Versuch funktioniert, zeigt sich schlussendlich im Vergleich zwischen den Briefwahlbezirken mit plakatierten Kiosken und solchen ohne plakatierte Kioske. Wir können die gesamte Wahlbeteiligung in Bezirken mit plakatierten Kiosken um 0,0 bis 1,8 Prozentpunkte steigern. Der wahrscheinlichste Effekt liegt hier bei 0,75 Prozentpunkten. Noch deutlicher wird dieser Effekt bei der Betrachtung der reinen Urnenwahlbeteiligung: Hier erwarten wir einen wahrscheinlichsten Effekt von 2,0 Prozentpunkten.
All diese Ergebnisse sind allerdings mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. Zum einen sind die geschätzten Effekte sehr unsicher. Zum anderen können uns weitere Faktoren wie die sozio-ökonomische Zusammensetzung der Briefwahlbezirke potenziell einen Strich durch die Rechnung machen. Die Ähnlichkeit der Bezirke in diesem ersten Ansatz ist nur auf zwei Dimensionen gegeben. Andere wichtige Merkmale wie beispielsweise die sozio-ökonomische Zusammensetzung können ebenfalls dazu geführt haben, dass wir die beschriebenen Effekte finden. Nichtsdestotrotz stimmen uns die Ergebnisse der Pilotstudie positiv. Es scheint zunächst wahrscheinlich, dass sich Menschen wie Emilia aus der Einleitung durch die gesteigerte Aufmerksamkeit tatsächlich zur Wahl bewegen lassen.
[1] Suchbegriffe: Kiosk, Trinkhalle, Büdchen, Bude, Späti, Minimarkt und Verkaufshalle. Das Python-Skript zur Erhebung der Kioske in Duisburg ist hier zu finden: https://github.com/madiazgarcia/electoral-democracy-on-the-ground.
Literatur
Gerber, Alan S, Donald P Green, und Christopher W Larimer. 2008. „Social pressure and voter turnout: Evidence from a large-scale field experiment.“ American Political Science Review 102 (1):33-48.
Huckfeldt, R. Robert, und John Sprague. 1995. Citizens, politics, and social communication: Information and influence in an election campaign. New York, NY, US: Cambridge University Press.
Huckfeldt, Robert. 2007. „Information, Persuasion, and Political Communication Networks.“ In The Oxford Handbook of Political Behavior, ed. R. J. Dalton and H.-D. Klingemann. New York, United States: Oxford University Press.
Katz, Elihu, und Paul F. Lazarsfeld. 1955. Personal Influence. The Part Played by People in the Flow of Mass Communications. New York, USA: The Free Press of Glencoe.
Lazarsfeld, Paul F., Bernard Berelson, und Hazel Gaudet. 1968. The People’s Choice. Vol. Third Edition. United States of America: Columbia University Press.