Fünf politische Neuheiten mit dramatischen Folgen: Ein erster Kommentar zu den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen im Jahr 2024

Achim Goerres

‘A dark day for Germany is a dark day for Europe’ zitiert der Guardian Stimmen aus ganz Europa auf seiner Online-Titelseite als Reaktion auf die Wahlen der Landtage im Thüringen und Sachsen am 1.9.2024.

In einem ersten Kommentar zur Wahl fokussiere ich mich hier auf fünf politische Neuheiten, die wir in dieser Form aus den letzten Jahren nicht kennen.

 ThüringenSachsen
Wahlbeteiligung in %73,674,4
Parteienstimmen in %  
AfD32,830,6
CDU23,631,9
BSW15,811,8
SPD6,17,3
Linke13,14,5
FDP1,10,9
Grüne3,25,1
Restliche % andere Parteien, Vorläufige Endergebnisse der Landeswahlleiter vom 2.9.2024.

Sprunghafter Anstieg der Wahlbeteiligung
Das erste Novum dieser Doppelwahl war der unglaublich große Anstieg der Wahlbeteiligung um 8-9 Prozentpunkte im Vergleich zu den letzten Landtagswahlen. Diese hohe Wahlbeteiligung dürfte das Resultat einer starken Politisierung in den beiden Bundesländern sein. Dabei waren vor allem die AfD und das BSW sehr erfolgreich darin, ehemalige Nichtwähler*innen für sich zu gewinnen (in Thüringen AfD 71.000; BSW 27.000; in Sachsen, Afd 95.000, BSW 45.000, infratest-dimap Exit Poll-Schätzungen von 1.9. 23:18).

Kaum Abweichung des Ergebnisses von den Umfragen vor der Wahl
Die Wahlergebnisse der beiden Wahlen waren – als zweites Novum – kurz vor der Wahl erstaunlich gut vorhersehbar. So gab es kaum Diskrepanz zwischen den tatsächlichen Ergebnissen und den Mittelwerten der letzten Umfragen führenden Umfragehäuser vor den Landtagswahlen. Während solch eine gute Prognose des tatsächlichen Ergebnisses anhand letzter Umfragen vor einigen Jahrzehnten häufig möglich war, wurden gerade bei den letzten Wahlen Umfragen in ihrer Vorhersagekraft schwächer.
Wie kann man das neue, gute Übereinstimmen von Umfragen und tatsächlichen Ergebnissen erklären? Erstens: je stärker politisiert die Wählerschaft vor der Wahl ist, desto kristallisierter sind ihre Präferenzen und desto weniger Bewegung findet noch in den letzten Tagen vor der Wahl statt. Wenn ich weiß, wie jemand ein paar Tage vor der Wahl wählen will, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es auch so bleibt, in so einem politisierten Kontext hoch. Zweitens: Wegen der schon vor der Wahl bekannten Popularität ihrer bevorzugten Parteien finden es vermutlich die Wähler*innen der AfD und BSW einfacher, ihre wahre Präferenz auch in Umfragen korrekt anzugeben. Ein Verbergen der der als Normbruch wahrgenommenen Wahlabsicht , wodurch es zu Anfangszeiten der AfD in Umfragen zur Unterschätzung kam, ist nicht mehr notwendig.

Parteien der Bundesregierung sehr stark bestraft
Es ist ein immer wiederkehrendes Muster bei Landtagswahlen, dass die Parteien der Bundesregierung, die selbst gar nicht zur Wahl steht, abgestraft werden. Die Parteien der Ampelkoalition erhielten in Thüringen nur 10,4 %, in Sachsen nur 13,3 % aller Parteistimmen. Während so ein Gegenschwung gegen die Bundesregierung bei Landtagswahlen „normal“ ist, ist seine Größe ein Novum. Noch nie gab es solch ein große Differenz zwischen dem Anteil der Parteien in der Bundesregierung, und den ihren Landesschwesterparteien bei der darauf folgenden Landtagswahl.

Eine neue Partei zweistellig weniger als ein Jahr nach Gründung
Die vierte Neuheit war das erstaunlich gute Abschneiden des BSW in beiden Wahlen. Noch nie hat eine neue Partei in Landtagswahlen auf Anhieb so viele Stimmen geholt. Wahl Trotzdem ist es mehr als bemerkenswert, wie stark das BSW in so kurzer Zeit werden konnte.

Rechtsextremistische Partei das erste Mal seit 1932 mit relativer Mehrheit
Mit der AfD hat in Thüringen das erste Mal seit 92 Jahren eine rechtsextremistische Partei in Deutschland bei einer freien Wahl auf nationaler oder Landesebene die relative Mehrheit der Parteistimmen geholt. Das letzte Mal war es die NSDAP bei der Reichstagswahl vom 6.11.1932 (33,1 %).
Dieser Wahlerfolg der AfD in Thüringen im Jahr 2024 ist umso bemerkenswerter, als dass die Wahlbeteiligung sprunghaft um etwa 10 Prozentpunkte in beiden Ländern angestiegen ist. Während in Thüringen 2019 noch 259.000 Wähler*innen der AfD ihre Stimme gaben, waren es 2024 397.000 Thüringer*innen. Damit hat die Thüringer AfD die absolute Größe ihrer Wählerschaft um den Faktor 1,5 vergrößert. In Sachsen stieg die Zahl ihrer Listenstimmen von 595.000 im Jahr 2019 auf 719.000 im Jahr 2025, ebenfalls ein starker Anstieg um den Faktor 1,2. Dieser Erfolg der AfD ist immens, besonders angesichts der Skandale um Geheimdiskussionen zur „Remigration“ vor Jahresende 2023. Die AfD profitierte von der hohen Bedeutung von Migration, den Ängsten der Wähler*innen, der Frustration vor der Regierungskoalition im Besonderen und dem deutschen Staat im Allgemeinen sowie als kümmernde Partei in zwei Ländern, in denen viele Parteien sich in der Fläche nicht mehr organisieren können.

Fünfmal Neues mit dramatischen politischen Folgen
Kurzfristig führen die Wahlergebnisse zu völlig neuartigen Koalitionsgesprächen, mit unklaren Erwartungen und Ergebnissen. Da werden schon die nächsten Wochen Klarheit bringen.
Weiterhin erhöhen diese Ergebnisse weiter die politische Unsicherheit in den Köpfen der Menschen in Deutschland. Vorhersehbarkeit scheint es nicht mehr zu geben. Während die politischen Systeme der parlamentarischen Demokratie in Bund und Ländern darauf ausgerichtet sind, mit neuen und zersplitterten Parteienfraktionen zu funktionieren, sind die Wähler*innen mit diesen Phänomenen nicht vertraut. Diese Unsicherheit ruft Angst hervor. Diese Angst kommt nun zu den Ängsten hinzu, die die Wähler*innen im Wahlkampf schon umgetrieben haben: Angst vor Einwanderung und ihren Folgen, Angst vor dem Krieg in der Ukraine und Angst vor dem sozialen Abstieg.
Langfristig verlieren die beiden Bundesländer an Attraktivität für Menschen aus anderen Bundesländern und dem Ausland, die das BSW und die AfD stark ablehnen. Unternehmen könnten ihre Investitionen in den beiden Bundesländern überdenken. Unternehmen mögen keine politischen Neuheiten; sie bevorzugen Stabilität und Vorhersehbarkeit. Wenn dazu noch das Problem kommt, dass Arbeitnehmer*innen nicht zu den Standorten wollen, weil sie die Gewinnerinnen der Wahl ablehnen, könnte sich dies noch verstärken.
Durch das sehr deutliche Signal der Stärke der AfD in beiden Bundesländern werden wir mehr xenophobe Bemerkungen und Taten in der Öffentlichkeit sehen. Es gibt viele Menschen in Deutschland, die latent fremdenfeindlich sind, aber gelernt haben, dies nicht zu zeigen. Einige von diesen Menschen fühlen sich jetzt bestärkt, diese Fremdenfeindlichkeit stärker auszuleben – welches Ausmaß diese Enthemmung annimmt, können wir bisher nur erahnen.

Quellen Abrufdatum 2.9.2024
Websites der Landeswahlleiter, https://www.wahlen.sachsen.de/ , https://wahlen.thueringen.de/
Gesammelte Umfragergebnisse https://www.wahlrecht.de/umfragen/landtage/
Exit-Poll-Ergebnisse von infratest dimap https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2024-09-01-LT-DE-TH/

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