Russlanddeutsche und die Alternative für Deutschland: Die Bedeutung von Migrationsgeschichte und Identität

Jonas Elis und Manuel Diaz Garcia

Erstmals seit 1949 zog mit der Alternative für Deutschland eine rechtspopulistische Partei ins Parlament ein und beendete damit den besonderen Status Deutschlands als eines der wenigen westeuropäischen Länder ohne bedeutsame rechtsextreme Partei. Mit 12.6 % erreichte sie 2017 das beste Ergebnis einer neu in den Bundestag eingezogenen Partei.

Einen Teil ihrer Wählerinnen und Wähler gewinnt die AfD unter Russlanddeutschen. Das Paradoxe daran ist, dass es eine offen migrationskritische Partei schafft, Wähler*innen der größten migrantischen Herkunftsgruppe für sich zu mobilisieren. Unter anderem mit der Aufstellung russlanddeutscher Kandidat*innen für den Bundestag wie Waldemar Birkle 2017 in Pforzheim versucht die AfD gezielt die russlanddeutsche Community anzusprechen. Es sind Aussagen wie in der ZDF-Sendung dunja hayali, die den Versuch zeigen, auf die Identität von Russlanddeutschen anzuspielen: „Uns wurde dort [in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten] nicht die Möglichkeit gegeben Deutsch zu sein, Deutsch zu leben, unsere Identität zu haben.“ (ZDF dunya hayali, 09. August 2017) Aber warum wählen Menschen mit Migrationsgeschichte eine migrationskritische Partei?

Wie und warum umwirbt die AfD Russlanddeutsche?

Für die Wahlforschung sind Russlanddeutsche aus mehreren Gründen interessant: Zunächst machen sie mit etwa 2.4 Millionen die größte zusammenhängende Gruppe unter den 6.3 Millionen wahlberechtigten Personen mit Migrationshintergrund aus. Die meisten Russlanddeutschen erhielten gleich mit ihrer Einreise die deutsche Staatsangehörigkeit und, mit dem entsprechenden Mindestalter von 18 Jahren einhergehend, das Recht zu wählen. Als die meisten Russlanddeutschen in den 1990er Jahren als sogenannte Ausgesiedelte in die Bundesrepublik Deutschland kamen, entwickelten sie schnell eine starke Verbindung zur CDU. Obwohl neuere Studien zeigen, dass sich diese traditionellen Parteipräferenzen zunehmend auflösen, herrscht in dieser Gruppe eine Nähe zu konservativen Parteien vor.

Darüber hinaus gibt es eine einzigartige russlanddeutsche Identität. 2017 identifizierten sich 36 % voll und ganz als Deutsche, 21 % als Russlanddeutsche und immerhin 12 % als Russen. Die AfD hat diesen Umstand vor dem Bundestagswahlkampf 2017 erkannt und versucht teilweise gezielt die Russlanddeutsche Identität anzusprechen. Innerhalb der Partei besteht das Netzwerk „Russlanddeutsche für die AfD“, dessen Inhalte sich nicht ausschließlich an die Belange dieser Bevölkerungsgruppe richten, aber sie zuweilen im Wahlkampf adressiert: beispielsweise mit russischsprachigem Werbematerial. Weiterhin stellte die Partei Kandidat*innen mit russlanddeutschem Hintergrund bei Wahlen auf oder bezog sich auf Themen mit besonderer Relevanz innerhalb dieser Community, wie den Fall Lisa.

Eine Geschichte über Ablehnung von Migration, niedrige Integration und russlanddeutsche Identität

Nach der Bundestagswahl 2017 wurden im Rahmen der Immigrant German Election Study (IMGES) wahlberechtigte Russlanddeutsche auf Basis einer bundesweiten Zufallsstichprobe unter anderem zu ihrem Wahlverhalten befragt. Die Daten zeigen, warum Menschen mit russlanddeutschem Migrationshintergrund die AfD wählen.

Die Ergebnisse der IMGES in Grafik 1 zeigen, dass die AfD unter Russlanddeutschen mit etwas mehr als 15 % lediglich die drittstärkste Partei war. Weit hinter der CDU/CSU und der Linken, allerdings vor der SPD und den Grünen. Die meisten russlanddeutschen Wähler*innen haben also nicht die AfD gewählt und dennoch lag ihr Anteil über dem offiziellen Wahlergebnis in der Gesamtbevölkerung von 12.6 %.

Tabelle 1: Zweitstimmenergebnisse aus der bundesweiten Zufallsstichprobe der IMGES von 508 Russlanddeutschen der ersten und zweiten Generation.

Wie in der Mehrheitsbevölkerung trägt eine stärkere Ablehnung von Migration im Schnitt zu einer größeren Bereitschaft bei, die AfD zu wählen. Gleiches gilt für eine niedrigere soziale und wirtschaftliche Integration. Diese Befunde passen zu einem Muster, nach dem sich ethnische Minderheiten häufig von anderen Herkunftsgruppen abgrenzen, um ihren eigenen Status abzusichern.  Besonders für die Gruppe der Russlanddeutschen gilt aber: je stärker sie sich als Russlanddeutsche identifizieren, desto höher ist im Schnitt ihre Präferenz, die AfD zu wählen. Doch bedeutet das, dass die AfD mit einer gezielten Ansprache der russlanddeutschen Identität 2017 Erfolg hatte?

Auf dem Weg einer „Normalisierung“ des Wahlverhaltens?

Viele Faktoren, mit denen die Wahl der AfD häufig erklärt wird, haben unter Russlanddeutschen kaum einen Einfluss. Eine Ausnahme ist die eigene kritische Haltung gegenüber Migration. Das deutet darauf hin, dass es in dieser Bevölkerungsgruppe besondere Mechanismen gibt, welche eine Wahlentscheidung zugunsten der AfD begünstigen. Dazu zählen insbesondere eine starke eigene russlanddeutsche Identität sowie geringere Integration auf sozialer und wirtschaftlicher Ebene.

Die Ergebnisse der IMGES zu Russlanddeutschen und der AfD passen in ein Gesamtbild, welches in der internationalen Politikforschung zu der Frage entstanden ist, warum Menschen mit Migrationsgeschichte Parteien wählen, die Migration kritisch oder ablehnend gegenüberstehen.

Es gibt Hinweise darauf, dass sich die Gruppe der Russlanddeutschen über Generationen und mit mehr gesellschaftlicher Integration in ihrem Wahlverhalten der Mehrheitsgesellschaft angleicht – es findet eine Normalisierung des Wahlverhaltens statt. So wie die traditionelle Bindung türkeistämmiger deutscher Wähler*innen zur Sozialdemokratie, wird sich zunehmend auch die Verbundenheit von Russlanddeutschen zur CDU/CSU mit der Zeit auflösen. So wäre auch der Erfolg der AfD mit ihrer Ansprache der russlanddeutschen Identität eine vorübergehende Erscheinung.

Quellen

Bundeswahlleiter (2017). Bundestagswahl 2017: Endgültiges Ergebnis. Retrieved from https://www.bundeswahlleiter.de/info/presse/mitteilungen/bundestagswahl-2017/34_17_endgueltiges_ergebnis.html

DESTATIS (2017). Bevölkerung nach Migrationshintergrund und doppelter
Staatsangehörigkeit, Retrieved from https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/
GesellschaftStaat/Bevoelkerung/MigrationIntegration/Migrationshintergrund/
Tabellen/DoppelteStaatsangehoerigkeit.html

Goerres, Achim, Mayer, Sabrina, Spies, Dennis, and Elis, Jonas (2022). Wählerinnen und Wähler mit Einwanderungsgeschichte im Bundestagswahlkampf: Erste Ergebnisse der Immigrant German Election Study II (IMGES II) aus Duisburg von Mai bis November 2021. Available at SSRN: https://ssrn.com/abstract=4080426 or http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.4080426

Russlanddeutsche Wahlplakate der AfD abgerunfen unter: https://russlanddeutsche-afd.nrw/aktuelles/2017/06/kriminelle-zuwanderer-muessen-gehen/, https://russlanddeutsche-afd.nrw/ru/news/2017/06/kriminaelle-deportieren-ru/ und https://russlanddeutsche-afd.nrw/ru/news/2017/04/sozialsystem-kollaps-ru/

Spies, Dennis C./ Mayer, Sabrina J./ Elis, Jonas/ Goerres, Achim (2023): Why do Immigrants Support an Anti-Immigrant Party? Russian-Germans and the Alternative for Germany, West European Politics, 46/2: 275-99, Open Access

Strijbis, Oliver, and Javier Polavieja (2018). Immigrants against Immigration: Competition, Identity and Immigrants’ Vote on Free Movement in Switzerland. Electoral Studies, 56, 150–7.

Wüst, Andreas M. (2004). ‘Naturalised Citizens as Voters: Behaviour and Impact’, German Politics, 13:2, 341–59.

ZDF. (2017, 09. August 2017). Integriert und abgeschoben/ Russlanddeutsche und die AfD / Wie böse ist der Wolf?. 09. August 2017. dunya hayali.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert