Ein Gastbeitrag von Lucas Constantin Wurthmann,
( https://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/pw-marschall/team/lucas-constantin-wurthmann-m-a/ , Universität Düsseldorf)
Am 13. September 2020 wählt Nordrhein-Westfalen in den Kommunen seine kommunalen politischen Vertretungen neu. Dabei scheint sich in der Stadt Essen eine politische Sensation abzuzeichnen: In einer derzeitigen Umfrage des Instituts Infratest dimap liegt der amtierende CDU-Oberbürgermeister, Thomas Kufen, in der Wähler:innengunst laut einer Sonntagsumfrage bei 60% Zustimmung und kann sich eine Wiederwahl im ersten Wahlgang erhoffen (Infratest dimap 2020a). Kufen wäre damit seit 1999 der erste Kandidat, der es im ersten Wahlgang in das Amt schafft (vgl. Abbildung 1), wurde die Direktwahl des (Ober-)Bürgermeisters in NRW erst zur Kommunalwahl 1999 eingeführt (Kost 2015, S. 248).
Abbildung 1: Wahlergebnisse und Vorwahlumfrage Stadt Essen
Quelle: Stadt Essen 2004a; Stadt Essen 2004b; Stadt Essen 2009; Stadt Essen 2015; Infratest dimap 2020a. Eigene Darstellung.
* Die 1999 eingeführte Stichwahl wurde nach den Wahlen von 2004 ausgesetzt und erst zur Kommunalwahl 2014 wieder eingeführt (Andersen 2013, S. 198). Deshalb konnte SPD-Kandidat Paß im Jahr 2009 die Wahl ohne absolute Mehrheit gewinnen.
Tatsächlich gibt es Gründe, die einen Wahlerfolg Kufens im ersten Wahlgang durchaus plausibel erscheinen lassen und im Folgenden beschrieben werden sollen.
Die klassische Wahlforschung kennt verschiedene Ansätze, welche zur Erklärung von Wahlverhalten herangezogen werden. Dazu gehören, neben weiteren, unter anderem der makrosoziologische Ansatz, der vor allem auf soziostrukturelle Determinanten als relevante Faktoren für Wahlverhalten abzielt sowie der sozialpsychologische Ansatz, der eine Parteiidentifikation und die Orientierung an Kandidat:innen oder Themen als zentral ansieht. Zeigt sich in den vergangenen Jahrzehnten eine immer stärker abnehmende Bedeutung der Sozialstruktur für das individuelle Wahlverhalten, auch begünstigt durch gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und der Auflösung tradierter Wählerallianzen, beispielsweise der zwischen Arbeiter:innen und der SPD, wird dies besonders am Beispiel der Stadt Essen immanent. In den vergangenen Jahrzehnten hat die Stadt einen immensen strukturellen Wandel vollzogen, ist zu einem Dienstleistungs- und Wirtschaftsstandort und schließlich sogar zur „Grüne[n] Hauptstadt Europas 2017“ (MULNV NRW 2017) gewählt geworden – die letzte Zeche, Sinnbild für Industrialisierung und Bergbau, wurde bereits 1986 geschlossen (Stenglein 2018).
Forschungspraktisch zeigt sich, dass kommunales Wahlverhalten heute jedoch weniger von soziostrukturellen, sondern vielmehr von jenen Faktoren abhängt, die Bestandteil einer sozialpsychologischen Herangehensweise sind, insbesondere der Orientierung an Kandidat:innen (Kost 2015, S. 252). Kommunalwahlen und vor allem Direktwahlen von Oberbürgermeister:innen werden demnach zunehmend also weniger durch parteipolitische Motive, sondern durch Sympathie für eine:n Kandidat:in geleitet. Dass es dabei aber klar festzustellende Unterschiede gibt zwischen einer direkten Personalwahl und der Wahl einer Partei für den Stadtrat, zeigen auch, wenn auch nur rein deskriptiv, die aktuellen Daten von Infratest dimap. In denen zeigt sich eine erstaunliche Diskrepanz zwischen der Zustimmung für die CDU als solches, die auf derzeit 36% der Stimmen für den Stadtrat hoffen kann (Infratest dimap 2020b), verglichen zu den 60%, auf die Kufen hoffen könnte.
In seiner kommunalpolitischen Laufbahn hat Kufen schon ein Bündnis aus CDU, Grünen, FDP und Essener Bürger Bündnis (EBB) im Stadtrat angeführt und formte nach der Kommunalwahl 2014, bevor er 2015 in einer Stichwahl mit 62,6% der Wählerstimmen zum Oberbürgermeister gewählt wurde (vgl. Abbildung 1), eine Koalition mit der SPD. Mit Kufens Wahl stellt die CDU erstmals wieder in einer der zehn bevölkerungsreichsten Städte Deutschlands ein Stadtoberhaupt, welches Talente bei der Kompromissfindung und Bildung tragfähiger Koalitionen zeigt.
Auch politisch konnte er einige Erfolge in der Umsetzung seiner Agenda erzielen. Dazu zählt einerseits die Einführung eines Modellprojekts zur Reintegration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt (Lindgens 2017), welches neben weiteren Faktoren dazu geführt hat, dass die Arbeitslosenquote Ende 2019 auf dem Niveau landete, welches zuletzt Ende 1991 erreicht wurde (Stadt Essen 2019). Andererseits setzte Kufen immer wieder im Bereich der inneren Sicherheit Akzente im Kampf gegen Clan-Kriminalität, bei denen sich der Oberbürgermeister gemeinsam mit NRW-Innenminister Reul (CDU) zu inszenieren wusste (Süddeutsche Zeitung Online 2020). Kufen, der zwischen 2005 und 2010 Integrationsbeauftragter der NRW-Landesregierung und dem damaligen Integrationsminister und heutigen Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU) war, hat dabei aber nie die Töne klassischer „Law-and-Order“-Politiker:innen angeschlagen, sondern primär auch den Dialog gesucht, um einer gesellschaftlichen Stigmatisierung einzelner Bevölkerungsgruppen entgegen zu wirken. Stattdessen wurde mit der Einführung und Verstetigung einer so genannten „Doppelstreife“ aus Polizei und Ordnungsamt (Stadt Essen 2016) ein Akzent gesetzt, der zu mehr Sichtbarkeit von Ordnungskräften im öffentlichen Raum führte.
Ein anderer nicht zu unterschätzender Anteil an Kufens Popularität ist mit Sicherheit auch in der Frage zu finden, auf welche Art und Weise der Essener Oberbürgermeister die Kanäle sozialer Medien für seine Arbeit zu nutzen weiß. Insbesondere seine Kanäle auf Facebook und Instagram nutzt er täglich für den Austausch mit den Essener Bürger:innen. Nicht selten wird dort auf Problemlagen in der Stadt hingewiesen, worauf Kufen in der Regel sehr zügig reagiert und dann auch, sofern möglich, entsprechende Gegenmaßnahmen einleitet. So entsteht bisweilen der Eindruck eines responsiven Stadtoberhaupts, das in seinem Amt bürger:innennahe geblieben ist und auch bisweilen, beispielsweise durch die Verbreitung von eigenen Kochrezepten (auch als „Kochen mit Kufen“ bezeichnet), die Bürger:innen sozusagen in seine eigene Küche einlädt.
In der Summe gibt es also politische und persönliche Gründe, die eine derartige politische Sensation durchaus plausibel machen, ohne dafür notwendige Daten aber nur im Bereich der Mutmaßungen bleiben. Klar ist aber, dass Kufen, der in Essen aufgewachsen ist und dort auch eine kaufmännische Ausbildung absolvierte, in seiner Funktion als Oberbürgermeister auch weiterhin als Bürger unter vielen wahrgenommen werden will, was durch kleinere Einblicke in das private Leben auch klar wird. Folgt man der derzeitigen Datenlage, die durch Infratest dimap geschaffen wurde, scheint das bei seinen Wähler:innen durchaus auf Resonanz zu stoßen.
Quellenverzeichnis
Andersen, Uwe. 2013. Parteien auf der kommunalen Ebene in Nordrhein-Westfalen. In: Marschall, Stefan (Hrsg.): Parteien in Nordrhein-Westfalen. Essen: Klartext Verlag, S. 185-201
Infratest dimap. 2020a. NRW vor der Kommunalwahl 2020. 11 Städte NRW. Sonntagsfrage OB-Wahl. Online verfügbar unter: https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundeslaender/nordrhein-westfalen/laendertrend/2020/september-kommunalwahl/ – abgerufen am 04.09.2020.
Infratest dimap. 2020b. NRW vor der Kommunalwahl 2020. 11 Städte NRW. Sonntagsfrage Stadtratswahl. Online verfügbar unter: https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundeslaender/nordrhein-westfalen/laendertrend/2020/september-kommunalwahl/ – abgerufen am 04.09.2020.
Kost, Andreas. 2015. Bürgermeister in Nordrhein-Westfalen. In: Witt, Paul (Hrsg.): Karrierechance Bürgermeister. Leitfaden für die erfolgreiche Kandidatur und Amtsführung. 2., neu bearbeitete Auflage. Stuttgart u.a.: Richard Boorberg Verlag, S. 243-257.
Lindgens, Janet. 2017. Essen startet neues Modellprojekt für 250 Arbeitslose. Online verfügbar unter: https://www.waz.de/staedte/essen/essen-startet-neues-modellprojekt-fuer-250-arbeitslose-id212757807.html – zuletzt abgerufen am 04.09.2020.
MULNV Ministerium für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen. 2017. Essen ist Grüne Hauptstadt Europas 2017. Online verfügbar unter: https://www.nachhaltigkeit.nrw.de/projekte/gruene-hauptstadt-europas-essen/ – zuletzt abgerufen am 04.09.2020.
Stadt Essen. 2004a. Die Ergebnisse der Oberbürgermeisterwahl 2004. Online verfügbar unter: https://webapps.essen.de/wahlergebnisse/kw2004_ergebnisse04_OB.htm – zuletzt abgerufen am 04.09.2020.
Stadt Essen. 2004b. Die Ergebnisse der Oberbürgermeister-Stichwahl vom 10.10.2004. Online verfügbar unter: https://webapps.essen.de/wahlergebnisse/kw2004_ergebnisse04_OB_stichwahl.htm – zuletzt abgerufen am 04.09.2020.
Stadt Essen. 2009. Kommunalwahl 2009 Oberbürgermeister/-in. Online verfügbar unter: https://webapps.essen.de/wahlergebnisse/KW-2009/OB/JavaScript/ergebnisse.htm – zuletzt abgerufen am 04.09.2020.
Stadt Essen. 2015. Stichwahl des Oberbürgermeisters 2015. Online verfügbar unter: https://webapps.essen.de/wahlergebnisse/OBSW2015/Javascript/index.html – zuletzt abgerufen am 04.09.2020.
Stadt Essen. 2016. Neuausrichtung im kommunalen Ordnungsdienst. Online verfügbar unter: https://www.essen.de/meldungen/pressemeldung_1002895.de.html – zuletzt abgerufen am 04.09.2020.
Stadt Essen. 2019. Arbeitslosenquote in Essen mit 9,8 Prozent auf historischem Tief. Online verfügbar unter: https://www.essen.de/meldungen/pressemeldung_1341370.de.html – zuletzt abgerufen am 04.09.2020.
Stenglein, Frank. 2018. Essen und das Bergbaz-Ende zwischen Nüchternheit und Kitsch. Online verfügbar unter: https://www.waz.de/staedte/essen/essen-und-das-bergbau-ende-zwischen-nuechternheit-und-kitsch-id216054689.html – zuletzt abgerufen am 04.09.2020.
Süddeutsche Zeitung Online. 2020. Gemeinsam gegen Clans: „Sicherheitskonferenz Ruhr“ gestartet. Online verfügbar unter: https://www.sueddeutsche.de/panorama/kriminalitaet-essen-gemeinsam-gegen-clans-sicherheitskonferenz-ruhr-gestartet-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-200622-99-520342 – zuletzt abgerufen am 04.09.2020.