Von Lukas Fiege
Bei der Europawahl in Deutschland am 26.05.2019 rollte eine grüne Welle über das Land. Bündnis 90/Die Grünen verbesserte sich im Vergleich zur Wahl 2014 um knapp 10%-Punkte, während CDU und SPD starke Verluste hinnehmen mussten. Auch in der Sonntagsfrage befinden sich die Grünen auf einem derartigen Höhenflug, dass sie in neuesten Umfragen Kopf an Kopf mit der Union, teils sogar vor ihr, liegen. Was bedeutet es, dass die Grünen so plötzlich hoch wie Ikarus fliegen? Wie ist ihr rapider Erfolg – Verdopplung der Umfragewerte innerhalb eines Jahres – zu erklären? Erleben wir gerade dauerhafte Verschiebungen im deutschen Parteiensystem mit Folgen für bundespolitische Machtkonstellationen? Oder droht ein Absturz der Grünen, weil sie der Sonne zu nah kommen?
Apropos Sonne: Wer erinnert sich an den Sommer 2018? Die Republik erlebte den heißesten Sommer seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Alexander Gerst – besser bekannt als Astro-Alex – twitterte Bilder eines sonnenverbrannten Europas von der Internationalen Raumstation, und es schien, als sollte uns kollektiv die Erkenntnis eingeimpft werden, dass der Klimawandel real voranschreitet. Seitdem ist das Kernthema der Grünen die meist unumstrittene Nummer 1 auf der bundespolitischen Agenda. Die sogenannte Flüchtlingskrise gerät langsam in Vergessenheit, auch wenn sich die Parteien noch immer an ihr aufreiben. Der bevorstehende Brexit zieht sich hin, und verliert so an Aufmerksamkeitsbindungspotenzial. Und dann bekamen die Grünen zur rechten Zeit Hilfe aus den sozialen Netzwerken, wo mit einem Mal die schon länger bestehende Unfähigkeit der beiden gestandenen Volksparteien sichtbar wurde, das junge (und mittelalte) Volk abzuholen. Der Mangel an responsiveness auf inhaltlicher sowohl habitueller Ebene brach sich eruptiv zur Europawahl Bahn und katapultierte die Grünen endgültig in den Höhenflug mit unbekanntem Ende.
Wird dieser Erfolg von Dauer sein? Die Grünen gewannen Stimmen von allen Parteien, und sind bis auf die Wähler und Wählerinnen im Rentenalter entweder stärkste Kraft oder auf Augenhöhe mit der Union. Es scheint nicht, man denke an die Friday’s for Future-Proteste, als wenn sich die politische Agenda so schnell ändern sollte, eher noch, dass der Druck auf wirksame klimapolitische Handlungen weiter wachsen dürfte. Dennoch: Ereignisse, zu denen die Grünen klassisch nicht als kernkompetent angesehen werden, können auch unerwartet auftreten – vorhersehbar ist die Welt (siehe Flüchtlingskrise) nicht; die Politik schon gar nicht.
Trotz dieser Unsicherheit stehen die Grünen aus dem strategischen Grund „Umfrage“ aktuell nicht zur Umbildung der Bundesregierung zur Verfügung, sondern favorisieren Neuwahlen. Der Druck auf die verkrachte Dauerehe „GroKo“ wächst beständig, Angela Merkel findet öffentlich kaum statt, die SPD zerlegt sich wie gewohnt weiter selbst und Annegret Kramp-Karrenbauer hat weder innerparteiliche Machtposition noch das politische Gespür, sich gewinnend in Szene zu setzen. Robert Habeck und Co. können gerade nur gewinnen, egal was sie von sich geben, und treiben die anderen politischen Akteure vor sich her. Die CDU ist allergisch gegen Minderheitsregierungen, weshalb die grundsätzliche Regierungsbereitschaft der Liberalen nichts zur Sache tut. Machtpolitisch sind im Bund nur zwei Optionen realistisch: Erstens GroKo bis zum bitteren Ende, was AKK als CDU-Frontfrau verbrennen und die SPD in die Einstelligkeit treiben könnte. Zweitens Scheidung und Neuwahlen. Die politische Großwetterlage und die K-Frage sind für die CDU aber gerade so unangenehm, dass der entscheidende Impuls von der SPD kommen müsste. Diese irrt noch führungsloser als der Partner umher, und scheint keinen Mut zu einer Strategie gegen das sozialdemokratische Untergangsschicksal aufbringen zu können.
Schöne, neue, grüne Welt nach Neuwahlen also? So einfach ist es auch nicht: Denn die Grünen haben momentan ebenfalls eine Schwachstelle: Sie wissen gar nicht, ob sie überhaupt regieren wollen. Vielleicht wird ihnen gerade etwas schwindlig ob der Höhen, in denen sie sich befinden. Ein natürlicher, und mutiger nächster Schritt angesichts ihres politischen Momentums wäre, eigene Regierungs-, wenn nicht gar Kanzlerambitionen anzumelden. Genau das erwartet die Republik geradezu. Dies hieße, darauf zu vertrauen, dass die eigenen Flügel nicht mit unbeständigem Wachs am Parteikörper befestigt sind. Doch Habeck und Annalena Baerbock weichen der Frage beständig aus. Hier finden sich die eigentlich interessanten Fragen zur Wandlung des deutschen Parteiensystems:
Können die Grünen sich langfristig als zweite oder gar erste Kraft und neue Volkspartei etablieren? Ist die Partei bereit, die notwendigen Schritte zu gehen, um Regierungsverantwortung zu übernehmen? Geben ihre Personalstrukturen das her? Kann sie sich von großen Ideen zur ökologischen Umgestaltung der Welt hin zu politisch Machbarem, also Kompromissfähigem bewegen? Ist sie gewillt, sich endgültig als nächster Koalitionspartner der Konservativen zu begreifen? Schon einmal konnte man denken, dass die Grünen sich von einer ehemals außerparlamentarischen Kraft zur etablierten Systempartei entwickelt hatten, doch die letzten Jahre während der GroKo hat sie sich in der Oppositionsrolle erneut gefallen. Erleben wir nun endgültig den letzten Entwicklungsschritt der ehemaligen „Öko-Partei“ hin zum verantwortungsvollen Regierungspartner, oder gar zum Regierungsführer?
Ob die politisch gerade so fehlende Courage bei den Grünen zu finden ist, wird sich zeigen.