Welche Faktoren bedingen die Wahlentscheidung von Russlanddeutschen?

Von Achim Goerres, Sabrina J. Mayer, Dennis C. Spies

Wähler/innen mit Migrationshintergrund gegen ihren Willen? Eine Fokusgruppenanalyse von Identifikationen, politischen Themen und Bindungen der Russlanddeutschen während des Bundestagswahlkampfs 2017. Im Artikel, der kürzlich im Journal of Ethnic and Migration Studies erschienen ist, auch verfügbar auf researchgate.net, untersuchen wir die politischen Bindungen von Russlanddeutschen. Der folgende Beitrag ist eine Kurzfassung der zentralen Ergebnisse.

„Russlanddeutsche“, die aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland migriert sind, stellen heute mit knapp 2,4 der 6,3 Millionen Wähler/innen die größte Gruppe von Wähler/innen mit Migrationshintergrund (Destatis 2017).

Bei dieser Wählergruppe handelt es sich in mehrerlei Hinsicht um eine besondere Gruppe. Obwohl sie selbst nach Deutschland migrierten und sich mit dem deutschen Arbeitsmarkt und Lebensumfeld neu arrangieren mussten, sehen sie sich mehrheitlich als Deutsche, deren Wurzeln in der Auswanderungswelle in das zaristische Russland des 18. Jahrhunderts liegen. Diese Einschätzung wurde von der deutschen Regierung lange geteilt, die Aussiedlern nach der Ankunft die deutsche Staatsbürgerschaft gewährte, sodass hinsichtlich der politischen Partizipationsmöglichkeiten dieser Migrant/innengruppe keine Beschränkungen bestanden. Auch mit Blick auf ihr Wahlverhalten sind Russlanddeutsche anders als andere Gruppen von Wähler/innen mit Migrationshintergrund (Heath et al. 2013). Während diese mehrheitlich linke Parteien unterstützen, zeigten Studien aus den frühen 2000er Jahren, dass die Mehrheit der Russlanddeutschen der CDU/CSU nahesteht. Diese Bindung nahm in den letzten 15 Jahren jedoch stetig ab: Während 2002 noch 73 % der Russlanddeutschen angaben, die CDU/CSU gewählt zu haben (Wüst 2004), hat sich dieser Anteil bis 2016 fast halbiert (SVR 2016). Stattdessen wurde im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 vielfach diskutiert, ob die traditionell starke Bindung der Russlanddeutschen an die CDU/CSU bei Teilen der Gruppe abnimmt und durch eine Re-Orientierung hin zur AfD ersetzt wurde.

In unserem Artikel analysieren wir, welche Faktoren die Unterstützung der Russlanddeutschen für die CDU/CSU bedingen, ob und warum diese Unterstützung abnimmt und ob sich Russlanddeutsche nun vermehrt der AfD zuwenden. Dazu führten wir Anfang 2017 insgesamt vier Fokusgruppendiskussionen mit jeweils 5-6 Teilnehmer/innen in Duisburg und Köln durch. Aufgrund der beschränkten Teilnehmerzahlen sind dabei keine repräsentativen Aussagen über die gesamte Gruppe der Russlanddeutschen möglich. Unser Erkenntnisinteresse liegt in diesem Artikel daher auch nicht in der Überprüfung genereller Hypothesen. Stattdessen sind wir an der Identifikation möglicher kausaler Zusammenhänge zwischen Determinanten und der Wahlentscheidung, die spezifisch für Russlanddeutsche sind, interessiert, um Hypothesen für weiterführende Studien zu entwickeln.

Die Teilnehmer/innen-Rekrutierung erfolgte dabei über verschiedene Kanäle, wie Aushänge an universitären Instituten in Bochum, Duisburg und Köln, Versendung über Mailinglisten, Facebook-Aufrufe über die Seite des Lehrstuhls für Empirische Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen sowie Plakate in russischen und türkischen Supermärkten in Duisburg und Mülheim. All unsere 22 Teilnehmer/innen sind in Ländern der ehemaligen Sowjetunion geboren und selbst nach Deutschland migriert (1. Migrationsgeneration). Drei der vier Gruppen waren künstlich zusammengesetzt und bestanden aus 20- bis 49-jährigen Teilnehmer/innen, die sich vorher nicht kannten. Die Mitglieder dieser Gruppen erlebten den Migrationsprozess im Wesentlichen in sehr jungen Jahren an der Seite ihrer Eltern. Die vierte Gruppe bestand aus Mitgliedern eines russlanddeutschen Chors im Alter von 60 bis 74 Jahren, die erst als Erwachsene nach Deutschland kamen.

Zur Analyse der politischen Bindungen von Russlanddeutschen greifen wir auf das sozialpsychologische Modell (Campbell et al. 1960) zurück, das in der Wahlforschung eines der zentralen Modelle zur Erklärung der Wahlentscheidung darstellt. Hierbei ist die Parteiidentifikation – eine langfristige Bindung an eine politische Partei, die in der Regel im Elternhaus erworben wird – zentrales Kernstück des Ansatzes.

Die Identifikation mit einer Partei beeinflusst das politische Verhalten entscheidend: Parteianhänger wählen die Identifikationspartei wesentlich häufiger als Nicht-Anhänger. Sie entscheiden sich zudem früher, welche Partei sie bei einer Wahl wählen werden, sind sich in ihrer Wahlentscheidung sicherer und stimmen seltener mit Erst- und Zweistimme für unterschiedliche Parteien. Für die Wahlentscheidung selbst spielt aber nicht nur die Parteiidentifikation eine Rolle, sondern auch kurzfristige Faktoren können die Wahl beeinflussen: So ist es für Wähler auch von Bedeutung, welche Partei in ihren Augen geeignet ist, die aktuell wichtigsten Probleme in Deutschland zu lösen und wie sie die Kandidaten der Parteien einschätzen. Da die Parteiidentifikation in der Regel bereits im Elternhaus erworben wird, ist bei Personen mit Migrationshintergrund unklar, wie diese eine solch langfristige Bindung aufbauen können. Wir erweitern das sozialpsychologische Modell daher um die Annahme, dass die Bindung an die eigene Herkunftsgruppe die Parteibindung beeinflusst. So nehmen wir an, dass ein starkes Gruppenbewusstsein als Russlanddeutsche/r besteht, welches durch die gemeinsamen Sozialisations- und Migrationserfahrungen sowie Diskriminierungserfahrungen im Herkunftsland und in Deutschland beeinflusst wird. Die Willkommenspolitik in den 1980er und frühen 1990er Jahren der Regierung Kohl gegenüber den Russlanddeutschen sowie das Staatsbürgerschaftsrecht, das Russlanddeutschen nach der Ankunft die deutsche Staatsbürgerschaft sicherte, führten zu einer Verbindung zwischen der ethnischen Gruppe der Russlanddeutschen und der CDU/CSU (Joppke 2005).

Mögliche Gründe für eine Änderung des politischen Verhaltens von Russlanddeutschen können so präzise verortet werden: Es ist möglich, dass die Identifikation als Russlanddeutsche/r abnimmt, aber auch denkbar, dass die Bindung der Russlanddeutschen an die CDU/CSU nachlässt oder kurzfristige Faktoren zu einer (zeitweisen) Abkehr von der CDU/CSU führen.

Bei der Betrachtung der Gruppenidentifikation zeigte sich, dass in allen Gruppen ähnliche historische Ereignisse für die Bildung der Identität als Russlanddeutsche genannt wurden (die Einladung durch Katharina der Großen, die fortwährende Nutzung der deutschen Sprache in der Familie, die Russifikation unter Stalin, sowie das Bewusstsein innerhalb der Familie, dass Deutschland die ursprüngliche Heimat sei). Wichtig ist auch die Rolle von Diskriminierungen, die in diesem Fall eine doppelte Diskriminierungserfahrung darstellen: Die Befragten wurden im Herkunftsland als Deutsche, aber in Deutschland als Fremde gesehen („in Russland waren wir Deutsche. […] Und hier sind wir Russen.” III.2, Frau, 60-64 Jahre; “In der Grundschule wurde ich halt … war ich immer die Russin. In Kasachstan waren wir halt ja immer die Deutschen.“ I.3, Frau, 30-34 Jahre; „Und dann kommt man nach Deutschland, wo man denkt, ja, jetzt bin ich ja Deutscher und dann sagen die, du bist ein Ausländer.“ IV.1, Frau, 25-29 Jahre). In der Analyse zeigte sich, dass die Identifikation als Russlanddeutscher nicht abnimmt, sondern bei jüngeren Befragten möglicherweise noch ausgeprägter ist.

Bei unserer Betrachtung der Bindung der Russlanddeutschen an die CDU/CSU stellten wir fest, dass eine solche Bindung, die auf Gefühlen der Dankbarkeit beruht, vor allem bei älteren Befragten zu finden ist. („Ich denke, die Russlanddeutschen, warum sie für die CDU/CSU sind, weil es war auch der Helmut Kohl an der Spitze, an der Macht, als die Russlanddeutschen diese die Grenze wurde dann aufgemacht. Dann konnten die Russlanddeutschen nach Deutschland kommen. Und das zählt.“ III.3, Mann, 65-69 Jahre). Für die jüngeren Befragten spielt sie hingegen eine weniger wichtige Rolle („Deswegen bin ich natürlich froh, dass ich hier bin. Bin aber jetzt nicht wirklich der Meinung, dass ich der CDU zu Dank verpflichtet.“ IV.3, Frau, 20-24 Jahre). Es scheint daher, dass diese Bindung vor allem bei Russlanddeutschen besteht, die den Migrationsprozess nach Deutschland bewusst miterlebten, während wir in der jüngeren Alterskohorte eine weniger ausgeprägte Bedeutung dieser politischen Entscheidungen für die eigenen Einstellungen beobachten können.

Vor allem die Analyse der kurzfristigen Faktoren lieferte wertvolle Hinweise hinsichtlich einer politischen Umorientierung der Russlanddeutschen. Während Kandidatenbewertungen kaum eine Rolle spielten, sind vor allem politische Themen von Bedeutung. Zum einen ist den Befragten eine freundschaftliche Politik zu Russland wichtig, dem sie sich historisch selbst verbunden fühlen und wo sie oftmals noch Verwandte und Bekannte im Land haben, die von den Sanktionen betroffen sind. Zum anderen wird vielfach das Thema Immigration als wichtigstes politisches Thema genannt. Die Immigrationspolitik der Bundesregierung und das Verhalten von Angela Merkel in der Flüchtlingskrise werden oftmals negativ bewertet („Nur das, was passiert ist, 2015, also hat meine Sicherheit, meine persönliche Sicherheit zu Politik, Merkel speziell etwas erschüttert“ III.3, Mann, 65–69 Jahre). Die hohe Bedeutung des Themas Immigration besteht natürlich nicht nur für Russlanddeutsche und entspricht dem Muster für Wähler/innen ohne Migrationshintergrund. Spezifisch für Russlanddeutsche ist jedoch der Punkt, dass sie in diesem Zusammenhang ihre eigenen Migrationserfahrungen mit den Erfahrungen der Migranten in der aktuellen Situation vergleichen. Ergebnis dieses Vergleichsprozesses kann das Gefühl sein, heutige Migrantengruppen hätten es einfacher („Wir haben Riesenprobleme gehabt, um reinzukommen. Und andere Leute, die haben das ganz einfach. Die werden einfach durchgewunken.“ III.3, Mann, 65-69 Jahre). Dabei grenzen sie sich mit dem Hinweis auf die eigene Geschichte und kulturelle Herkunft klar von den Neuankömmlingen ab (“aber trotzdem, wir sind Christen und klar sind wir dann näher am Deutschen.” IV.5, Frau, 25-29 Jahre). Daraus entsteht das Bild, „irgendwie einen legitimen Grund zu haben, warum man aus dem Ausland nach Deutschland kommt“ (II.1, Mann, 35-39 Jahre), der für die Gruppe der neuangekommenen Flüchtlinge nicht bestehe.

Die AfD zeichnete sich im Vergleich zu den anderen Parteien im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 besonders durch die gezielte Ansprache von Russlanddeutschen aus. Neben der Gründung eines Netzwerks für Russlanddeutsche in der AfD wurde die Lockerung der Sanktionen gegenüber Russland im Wahlprogramm verankert. Zudem wurden Russlanddeutsche durch die Übersetzung des Wahlprogramms ins Russische und gezielte Ansprachen im Wahlkampf, auch in sozialen Medien, als ethnische Deutsche klar gegenüber Flüchtlingen und anderen Migrantengruppen abgegrenzt. Dieser Einsatz der AfD wurde von den Russlanddeutschen wahrgenommen und positiv bewertet (“[ein] ziemlich wichtiger Punkt, dass man sich von einer Partei ganz anders beachtet und wertgeschätzt fühlt.“ II.3, Mann, 20-24 Jahre). Durch ihre gezielte Ansprache und die Unzufriedenheit einiger Russlanddeutschen mit der Immigrationspolitik sowie vorallem die daraus resultierende Unsicherheit hinsichtlich des eigenen Gruppenstatus, zeigt sich, dass die AfD für einige Russlanddeutsche als wählbare Alternative erscheinen kann. Ob es sich hierbei um einen kurzfristigen Rückgang der Unterstützung der CDU/CSU oder eine langfristige Abkehr handelt, ist noch nicht abzusehen, hierfür sind die nächsten Wahlen abzuwarten.

Referenzen

Heath, A. F., S. D. Fisher, G. Rosenblatt, D. Sanders, and M. Sobolewska. 2013. The Political Integration of Ethnic Minorities in Britain. Oxford: Oxford Univ. Press.

Joppke, C. 2005. Selecting by Origin. Ethnic Migration in the Liberal State. Cambridge, Mass: Harvard University Press.

Sachverständigenrat für Integration und Migration. 2016. Schwarz, rot, grün – welche Parteien bevorzugen Zuwanderer? Policy Brief des SVR-Forschungsbereichs. (2016-5).

Statistisches Bundesamt (Destatis). 2017. Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2016.

Wüst, A. M. 2004. Naturalised Citizens as Voters: Behaviour and Impact. German Politics 13 (2): 341–359.

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