Ein Klassiker mit aktuellem Bezug „Die Arbeitslosen von Marienthal“

von Regina Weber.

„Die Arbeitslosen von Marienthal“ ist ein Klassiker der soziologischen Literatur. Die Forschungsarbeit zu den Auswirkungen von Massenarbeitslosigkeit in Folge der Weltwirtschaftskrise 1929 entstand sollte auch heute gelesen werden: Die Methodik hat die Sozialwissenschaften geprägt und die Fragestellung ist aktueller denn je.

In der sozialwissenschaftlichen Literatur gilt der Text als Klassiker: “Die Arbeitslosen von Marienthal” von Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel. Marienthal, eine Arbeitersiedlung in der Nähe Wiens wurde im Zuge der Wirtschaftskrise von 1929 zum “Tal der Arbeitslosen”: Der Textil-Konzern Mautner schließt das Werk Marienthal und aus der Arbeiterkolonie wird mit einem Schlag ein Ort mit 1300 Arbeitslosen. Von 1931 bis 1932 erhebt das Forscherteam Daten, einen Teil der Zeit verbringen die Forscher/innen direkt in der Gemeinde, einzelne arbeiten in Arbeiter-Hilfsorganisationen mit, um direkten Kontakt zur Bevölkerung aufzubauen. Die Arbeit hat das Ziel, “zum Problem der Arbeitslosigkeit Material beizutragen” und will versuchen “einen sozialpsychologischen Tatbestand […] objektiv darzustellen”.

Massenarbeitslosigkeit führt bei den Arbeitslosen und deren Familien zu Resignation und bringt das gesellschaftliche Leben eines ganzen Dorfes zum Erliegen. Zeit verliert ihre Bedeutung: Die Menschen bewegen sich langsamer und strukturieren ihren Alltag nicht mehr. Außerdem zeigten sich nach und nach Merkmale von Entsolidarisierung: Anonyme Denunziationen von Schwarzarbeit, oft ohne realen Hintergrund, steigen an. Demgegenüber bleiben die menschlichen Beziehungen innerhalb der Familien weitgehend intakt. Die Arbeitslosen gewöhnen sich im Laufe der Zeit an die Situation. Langsam wird deutlich, dass es sich bei der Arbeitslosigkeit nicht um ein individuelles, sondern um ein kollektives Problem handelt: Irgendwann geben die Arbeitslosen auf, sich neue  Arbeit zu suchen und richten sich in ihrem Leben ein.

Eine wichtige Erkenntnis ist die Heterogenität der Ergebnisse aus den unterschiedlichen Methoden und Datenquellen (und deren Verbindung heute als Triangulation bezeichnet würde): Aus den biografischen Rekonstruktionen wird der Zusammenhang zwischen Persönlichkeitseigenschaften und dem Umgang mit der Arbeitslosigkeit deutlich: Resignation entwickelte sich vor allem bei denjenigen, die sich auch vor der Arbeitslosigkeit tendenziell passiv verhalten hätten. Diejenigen, die in ihrem bisherigen Leben Rückschläge gut verarbeiteten, tun dies auch in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit. Die statistischen Auswertungen zeigen einen Zusammenhang zwischen der objektiven materiellen Lage der Arbeitslosen und dem Ausmaß der Resignation.

Die Ergebnisse sind, so Jahoda knapp 60 Jahre später, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung kaum kritisiert und ohne Folgen geblieben, “largely because of the political events at the time of publication” (Jahoda 1992). Deutlich wirksamer in ihrer Rezeption war die Methodik: Die Vorgehensweise war für die damalige Sozialforschung wegweisend. Ausgangspunkt der Arbeit waren offene Fragen nach der Auswirkung von Arbeitslosigkeit. Geprägt einerseits durch die Statistik-Arbeiten der Sozialpsychologie und den  Versuchen der Wiener Entwicklungspsychologie um Charlotte Bühler, soziale Beziehungen und Lebensläufe zu untersuchen wollten die Wissenschaftler/innen die Lücke zwischen ihren Alltagsbeobachtungen und vorhandenen Daten schließen. Dieses Ansinnen ist heute noch oft ausschlaggebend für Fragestellungen in der qualitativen Forschung. Die Autor/innen verbinden offizielle statistische Daten aus Gemeinderegistern mit Daten aus eigenen Erhebungsprotokollen und teilnehmenden Beobachtungen. Die Herangehensweisen sind heute als Mixed Methods und als Teil der Qualitativen Sozialforschung in den Standard-Methodenkanon der empirischen Sozialwissenschaften eingegangen. Die Forschung war problemorientiert und wenig theoriegeleitet (Jahoda 1992: 357). Was einerseits der Tatsache geschuldet war, dass es wenig bis keine sozialwissenschaftlichen Erklärungen zu den Auswirkungen von Massenarbeitslosigkeit gab war aber gleichzeitig der Schlüssel, um offen in das Forschungsfeld einzusteigen.

Das Buch landete kurz nach dem Erscheinen 1933 auf dem Scheiterhaufen der verbrannten Bücher – nur wenige Exemplare blieben erhalten – und wurde erst 1960 neu aufgelegt. Mittlerweile hat es Eingang in den Methodenkanon der Sozialwissenschaften gefunden (Flick et al. 2012: 119-122). In dreierlei Hinsicht ist die Arbeit auch heute lesenswert:

  1. Die Autor/innen waren nicht nur Wissenschaftler/innen, sondern haben politisch motiviert geforscht. Als Aktivisten der österreichischen sozialistischen Bewegung im damaligen “Roten Wien” war ihre Forschung Ausdruck ihrer politischen Überzeugung. Damit grenzen sie sich ab von einem Wissenschaftsverständnis, das vordergründig “neutral” sein will und nicht den Anspruch hat, gesellschaftliche Missstände aufzudecken und Lösungen anzubieten. Allerdings verbleiben sie  mit ihrer Analyse auf der Ebene des Einzelproblems: Sie analysieren die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit und die Kompensationsmöglichkeiten, die die Arbeitslosen entwickeln. Die Frage nach den Gründen  und Ursachen für die Bedingungen stellen sie jedoch nicht. Darin zeigt sich beispielhaft das Dilemma der Sozialwissenschaft zwischen Beratungsleistung und gesellschaftlichen Analysen, die weiter gehen: Als Sozialist/innen, die den oppositionellen österreichischen Sozialdemokraten nahestanden und auf Anregung des Nationalratsabgeordneten Otto Bauer in Marienthal forschten, war die konservative Regierung Österreichs, deren Umgang mit der Wirtschaftskrise und die sozialdemokratische Antwort darauf implizites Ziel der Arbeit (Neurath 1995). Damit war auch die Grenze der Analyse und möglicher Alternativen gesetzt.
  2. Die methodische Herangehensweise zeigt beispielhaft, wie Daten verschiedener Ebenen miteinander verbunden werden können. Statistische Kennzahlen, die Hinweise auf grobe Zusammenhänge geben werden ergänzt durch intensive Beobachtungen der Alltagspraxis.  Der Feldzugang erfolgt über politische Gruppen und Selbsthilfeorganisationen, um das notwendige Vertrauen aufzubauen, das überbaut erst die Grundlage bildet, auf der tiefe Einblicke in den Alltag der Arbeitslosen möglich sind. Auch die Auswertung der Daten und die Typenbildung sind immer noch beispielhaft: Sprachlich auch für Nicht-Sozialwissenschaftler/innen verständlich, aber dennoch analytisch fundiert und klar.
  3. Angesichts steigender Arbeitslosenzahlen in Europa, die in manchen Ländern (Griechenland) und in einigen Bevölkerungsteilen (unter Jugendlichen in Spanien und Griechenland) zwischen einem Drittel und über der Hälfte der Bevölkerung umfassen, ist die Frage nach den sozialen Auswirkungen kollektiver Arbeitslosigkeit virulent. Die Aufforderung Jahodas (1992: 358) an die Sozialwissenschaftler/innen ist daher aktuell: ”In some reports on modern studies it is hard to realize that the unemployed are human beings; they are dissolved into variables suitable for entry into regression analyses and ANOVAS. […] reintroduction of people into research reports would gain them not only a wider readership; it would also alert the authors to how much more remains to be explained than generalized tendencies.” Und ergänzend: Die Aufgabe der Sozialwissenschaften sollte sich nicht darauf beschränken, Folgen zu analysieren, sondern nach Ursachen zu suchen und über den Tellerrand des scheinbar Möglichen zu denken.

Literatur

Lazarsfeld-Jahoda, M., & Zeisl, H. 1975 (1933). Die Arbeitslosen von Marienthal. Frankfurt/Main: Suhrkamp (Leipzig: Hirzel).

Flick, U. et al. (Hg.) 2012. Handbuch Qualitative Sozialforschung. 3. Auflage, München: Psychologie Verlags Union.

Neurath, P. 1995. Sixty Years Since Marienthal. The Canadian Journal of Sociology / Cahiers canadiens de sociologie 20: 91–105.

Jahoda, Marie. 1992. Reflections on Marienthal and after. Journal of Occupational & Organizational Psychology 65: 355–358.

Webseite zur Marienthal-Studie des Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich: http://agso.uni-graz.at/marienthal/index.htm

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