von Florian Rabuza
Das Buch „Public Opinion in Occupied Germany“ von Anna und Richard Merritt aus dem Jahre 1970 ist ein Kompendium der von der amerikanischen Militärregierung durchgeführten Bevölkerungsumfragen in der amerikanischen Besatzungszone. Die insgesamt 72 Umfragen, die im Zeitraum von Oktober 1945 bis September 1949 durchgeführt wurden, haben Themen aus allen Teilbereichen des öffentlichen und privaten Lebens zum Gegenstand und legen einen besonderen Fokus auf die Messung der Persistenz und des Wandels nationalsozialistischer Einstellungen in der deutschen Bevölkerung. Es ist sowohl in methodologischer historischer als auch in substantieller Hinsicht ein eindrucksvolles Dokument, das es verdient von einem breiten, nicht nur sozialwissenschaftlich interessiertem Publikum gelesen zu werden.
Nach der deutschen Kapitulation 1945 und der Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen wurde im amerikanischen Sektor die Notwendigkeit gesehen, die Bevölkerung genauer unter die Lupe zu nehmen. Genauer gesagt unter die sozialpsychologische Lupe. In der damals in den USA bereits relativ gut entwickelten Umfrageforschung sah die amerikanische Militärregierung (OMGUS) ein wirksames Instrument um Informationen über die Stimmung und die Anliegen der besiegten deutschen Bevölkerung einzufangen. Diese Informationen waren sehr wertvoll, um einerseits zu sehen, was die größten Sorgen oder Bedürfnisse der Deutschen waren und wie sich diese im Zeitverlauf verändern. Andererseits sollten diese Daten genutzt werden, um den Anteil der Bevölkerung zu identifizieren, der noch immer Anhänger der faschistischen Ideologie des Dritten Reiches ist, und den Anteil der Gesellschaft, der demokratische Orientierungen besitzt. Dies geschah mit dem klaren Ziel das Risiko von Widerstand realistisch einzuschätzen und gleichzeitig die Maßnahmen der Re-Education effizient einzusetzen. Um dieses Ziel zu erreichen, gründete die OMGUS die sog. Opinion Survey Section unter der Leitung von Frederick W. Williams. Diese Gruppe von Sozialpsychologen führte zwischen Oktober 1945 und September 1949 in der amerikanischen Besatzungszone insgesamt 72 Bevölkerungsumfragen zu allen nur erdenklichen Themen durch, die das alltägliche Leben, die wirtschaftlichen und politischen Einstellungen der Deutschen betrafen. Die Ergebnisse dieser Umfragen wurden in Berichten von teilweise nur 2 bis zu etwa 70 Seiten festgehalten.
Die Politikwissenschaftler Anna und Richard Merritt haben in ihrem Buch „Public Opinion in Occupied Germany“ von 1970 den Versuch unternommen die Ergebnisse der OMGUS-Surveys zu sammeln und die von der Opinion erstellten Survey-Reports kurz zusammenzufassen. Was vor allem als eine Art Dienst an der Scientific Community gedacht war, um diese Daten zugänglicher zu machen, erweist sich heute als unschätzbar wertvoller zeit- und wissenschaftshistorischer Beitrag. Der folgende Beitrag möchte einen Einblick in das Buch geben, dessen Lektüre, dies sei bereits vorausgeschickt, jedem, nicht nur Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlern, wärmstens empfohlen sei.
Das Wichtigste zuerst: Das Buch ist kein politikwissenschaftliches Werk im gewohnten Sinne, da es keine Theorie entwickelt oder testet. Es ist vielmehr ein Kompendium der damaligen Umfragetätigkeiten der OMGUS, dass in chronologischer Reihenfolge der Surveys deren Ergebnisse wiedergibt. Diesem Überblick ist allerdings ein einleitendes Kapitel „Political Perspectives in Occupied Germany“ vorangestellt, das relativ kritisch mit dem Abstand fast zweier Jahrzehnte die Arbeit der Opinion Survey Section und vor allem das damit verbundene Demokratisierungsverständnis reflektiert. Das immer größere Gewicht, das die Militärregierung auf den Antikommunismus legte, hatte nämlich nach Meinung der Autoren eine Restauration zur Folge, die der deutschen Bevölkerung, die ohnehin als zugänglich für autoritäre Ideologien einzuordnen war, wieder totalitäre Tendenzen einimpfte (vgl. Gerhardt 2005). Diese Einschätzung wiederholen und verstärken die Autoren in späteren Werken, die sich mit dem gleichen Thema, der Demokratisierung Deutschlands, auseinandersetzen (Merritt und Merritt 1980; Merritt 1995).
Der wesentliche Inhalt des Buches, der über drei Viertel des Buches einnimmt, liegt in der Präsentation des Datenmaterials. Die Ergebnisse aller Surveys werden verbalisiert dargestellt und auf die wichtigsten Befunde wird kurz eingegangen. Sehr interessant sind hierbei auch die Grafiken im Einleitungskapitel, die die Entwicklung wichtiger Einstellungen im Zeitverlauf darstellen. So zeigt sich beispielsweise wie zu Beginn der Besatzungszeit noch ca. 70% der Befragten davon überzeugt sind, dass die Besatzungsmächte erfolgreich kooperieren werden, um letztendlich ein vereinigtes Deutschland zurückzulassen. Nur 15% sind gegenteiliger Meinung. Dieses Bild wandelt sich rapide und im Januar 1948 glauben bereits 80% der Befragten nicht mehr an eine erfolgreiche Wiedervereinigung.
Wichtiger und nicht weniger interessant sind Zahlen zu den Einstellungen zum Nationalsozialismus und zu faschistischen Ideologien. Im Rahmen der Entnazifizierungsmaßnahmen wurden solche Fragen in regelmäßigen Abständen in die Surveys eingebaut. Einstellungen zum Nationalsozialismus wurden gemessen mit der Frage, ob der Nationalsozialismus eine gute Idee sei, eine schlechte Idee sei oder lediglich schlecht ausgeführt worden sei. Die Analyse der Entwicklung dieser Einstellungen zeigt eindeutig, dass die Verteilung dieser Einstellungen sich im Zeitraum von 1946 bis 1948 kaum verändert. Im gesamten Untersuchungszeitraum sind immer ca. 50% der Befragten der Meinung, der Nationalsozialismus sei prinzipiell eine gute Idee. Weiterhin geben im Zeitverlauf immer zwischen 40 und 50% der Befragten an zu glauben, dass es menschliche Rassen gebe, die eher dazu geeignet seien zu regieren als andere Rassen. In der Präsentation dieser Daten zeigt sich die Persistenz der nazistischen Ideologie, die auch direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs keine merkliche Erschütterung verspüren muss, in eindrucksvoller Weise.
Die Entwicklung weg von der entnazifizierenden hin zu einer antikommunistischen Strategie der Re-Education wird ebenso in den erhobenen Einstellungen deutlich. Die zunehmende Zuspitzung des Ost-West-Konflikts führte zu einem Verlust der Bedeutung der Entnazifizierungsmaßnahmen bzw. Demokratie-Erziehung für die USA zugunsten einer Erziehung der Deutschen zum Antikommunismus im amerikanischen Sektor. Diese Entwicklung bezeichnen Merritt und Merritt in ihrer Einleitung als paradox und sehen darin auch den entscheidenden Bruch der amerikanischen Bemühungen Deutschland zu demokratisieren. Die Frage, mit der diese Einstellungen erhoben werden, spiegelt dieses ambivalente Verhältnis wieder: „Wenn Sie wählen müssten, unter welcher Regierung würden Sie lieber leben?“ Die Antwortmöglichkeiten sind Nationalsozialismus, Kommunismus oder keines von beiden. Bemerkenswerterweise nimmt der Anteil derer, die keine der beiden totalitären Ideologien wählen würde ab und zwar zugunsten des Nationalsozialismus. Der Anteil der Befragten, die lieber im Kommunismus leben würden, nimmt von einem sehr geringen Ausgangsniveau von etwa 10% im Untersuchungszeitraum noch weiter auf ca. 5% ab. Dies spricht zum einen dafür, dass die antikommunistischen Maßnahmen der USA wirksam waren, andererseits spricht es auch für eine sehr starke Überschätzung der Gefahr, dass sich in der Amerikanischen Besatzungszone massenhaft kommunistische Einstellungen verbreiten. Dies unterstützt die eingangs erwähnte These von Merritt und Merritt die in diesen Maßnahmen wiederum die Saat autoritärer Ideologien sahen.
Die Lektüre von „Public Opinion in Occupied Germany“ lohnt sich heute aus mehrerlei Gründen. Zum einen ist es methodisch interessant. Viele heute selbstverständliche Aspekte der Umfrageforschung steckten damals noch in den Kinderschuhen. Deshalb ist es interessant zu lesen wie die Forscher mit ihren im Vergleich zu heute doch sehr begrenzten Mitteln vorgegangen sind. Das betrifft zum Beispiel Strategien der Stichprobenziehung und der Validierung des Datenmaterials. Sogar Survey-Experimente wurden eingesetzt, um die Aufrichtigkeit der Antworten auf oft sehr sensible Fragen zu evaluieren. Sogar erste komparative Analysen werden präsentiert, indem die Ergebnisse deutscher Befragungen mit denen von sechs bis sieben anderen Länder kontrastiert werden.
Zum anderen ist die Darstellung der Ergebnisse der OMGUS-Surveys sozialwissenschaftlich und zeitgeschichtlich spannend, da sie einen Einblick in nahezu jeden soziopolitisch relevanten Bereich der unmittelbaren Nachkriegszeit liefert und zeigt wie die Menschen diese wahrnahmen. Vor allem die Wahrnehmung ökonomischer Sorgen wird ausführlich untersucht, so dass die auch in etwas späteren und systematischeren Studien (z.B. Almond/Verba 1963) gefundene apolitische Haltung der Deutschen in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg nicht ausschließlich aber auch durch den ökonomischen Mangel zu erklären ist.
Zum dritten ist es ein eindrucksvolles Dokument der Langlebigkeit der nationalsozialistischen Ideologie und der Erfolgsaussichten von Maßnahmen, die zu deren Bekämpfung und zur Erziehung zur Demokratie eingesetzt werden. Vieles, was man hier lesen kann, lässt einen die Demokratisierungs-Bestrebungen westlicher Länder in post-autoritären Regimen heute etwas kritischer beäugen. Bitte lesen Sie dieses Buch.
Verwendete Quellen
Merritt, Anna J./ Merritt, Richard L. (Hg.) (1970): Public Opinion in Occupied Germany. The OMGUS Surveys, 1945-1949. Chicago: University of Illinois Press.
Weitere Quellen
Almond, Gabriel A./ Verba, Sidney (1963): The Civic Culture. Public Opinion and Political Attitudes in Five Nations. Newbury Park: Sage.
Gerhardt, Uta (2005): Bestandsaufnahme mit Zeitwert. Ein nachträglicher Blick auf das Kompendium „Public Opinion in Occupied Germany“. In: Zeithistorische Forschungen 2 . (Onlineausgabe) (aufgerufen am 25.01.2014)
Merritt, Anna / Merritt, Richard (1980): Public Opinion in Semisovereign Germany. The HICOG Surveys 1949-1955. Chicago: University of Illinois Press.
Merritt, Richard (1995): Democracy Imposed. U.S. Occupation Policy and the German Public, 1945-1949. New Haven: Yale University Press.